1.3 Chattenburg


Das alte Kasseler Landgrafenschloß, das in wesentlichen Teilen bis in die Zeit Landgraf Philipps des Großmütigen zurückging, galt am Ende des 18. Jahrhunderts als veraltet und unbequem. Deshalb beschloß Kurfürst Wilhelm I. nach der 1813 erfolgten Rückkehr aus dem Exil, "das alte Schloß, das ohnehin schon vor dem Brande [1811] ein durchaus nicht dem Ansehen und der Stellung des Kurfürstlichen Hauses entsprechendes Gebäude war, gänzlich niederzureißen und den Bau eines neuen Residenzschlosses unter dem Namen der Kattenburg auf demselben zu beginnen, da derselbe vortreffliches Licht und eine gesunde Luft bot, Wasser durch mehrere Zuleitungen hatte und man von ihm einer reizenden Aussicht über den Augarten, den schönen Fuldastrom und das wohlangebaute Thal, das derselbe durchzieht, genoß, auch noch die Annehmlichkeiten hatte, daß das Marstallgebäude, ferner ein Gebäude für die Hofverwaltung und ein anderes für die obern Staatsbehörden in unmittelbarer Nähe des Schlosses lagen" (Engelhard 1845/1, S. 53f.). Mit der Planung beauftragte er den Oberbaudirektor Heinrich Christoph Jussow (vgl. Katalog Kassel 1999/1, S. 226-235), sein Assistent war Johann Daniel Engelhard.
Da die ersten Planungen für einen konventionellen Dreiflügel- bzw. Vierflügelbau (beide StAM 300 P II 9575 u. 9578/9+10) verworfen wurden, entschloß Jussow sich schließlich zu einer Kombination der beiden Anlageformen, um den fürstlichen Anforderungen zu genügen, die er einmal wie folgt charakterisierte: "Bei der Anlage des neuen Kurf. Residenzschlosses allhier wurde, nachdem verschieden Projecte von kleinerm Umfange die allerhöchste Genehmigung nicht erhalten hatten, es als Bedingung vorgeschrieben, den Entwurf so einzurichten, daß vier Fürstliche Wohnappartements in der BelEtage und eine Kirche vorhanden seyen" (Manuskript im Nachlaß Jussow, mhk, Graphische Sammlung). Das zweite Obergeschoß sollte die Wohnungen der apanagierten Prinzen des kurfürstlichen Hauses enthalten. Im Erdgeschoß sollten zudem alle Räumlichkeiten der Hofverwaltung und des Hofhaushaltes integriert werden, ein Umstand, der laut Engelhard wesentlich zu der enormen Größe des Gebäudes beitrug: "denn um dieser Bestimmung vollkommen genügend und gründlich zu entsprechen, hatte Jussow veranlaßt, daß von sämmtlichen Hofbehörden Verzeichnisse der Lokalitäten, die sie bedurften, eingezogen wurden, und wenn dieses auch ganz sachgemäß und zweckmäßig erscheint, so hatte es doch auch die nicht ganz günstige Folge, daß die erwähnten Behörden angenommen hatten, bei einem neuen Schlosse müsse man alle Räumlichkeiten möglichst vollkommen vollständig und ausgedehnt haben, da es bei einem solchen großen neuen Gebäude auf einige Zimmer mehr nicht ankommen könne; wenn aber jede der einzelnen Behörden nach diesem Grundsatz verfuhr, so ist es einleuchtend, daß im Ganzen mehr als nur einige Zimmer über die Nothwendigkeit gefordert wurden, und so gelangte das ganze Schloß zu einer Ausdehnung, welche nur wenige Schlösser in der Welt übertreffen" (Engelhard 1845/1, S. 59). Der gesamte Baukomplex sollte danach etwa die vierfache Fläche des Vorgängerbaus einnehmen.
Die Pläne und das im Hessischen Landesmuseum aufbewahrte Modell des Hofmodellinspektors Johann Friedrich Blaue (mhk, Angewandte Kunst, Inv.Nr. B XIV.430) zeigen dementsprechend eine ausgedehnte Anlage, deren durch Säulen gegliederte Fassaden sich zu einer Höhe erheben sollten, die weit über die Altstadtbebauung herausragte - eine selbstbewußte Manifestation der Restauration in Anknüpfung an die großen Residenzen des Barock. "Ihm [Jussow] galt dabei vor allem der Eindruck des Kolossalen als höchst bedeutend und er suchte ihn besonders durch die Verwendung kolossaler Säulenordnungen hervorzurufen. Daher stammen die vier und achtzig ionischen Säulen von 4 1/3 Fuß Dicke und 39 Fuß Höhe, welche die Kattenburg verzieren sollten und welche auf einem Unterbaue zu stehen kämen, dessen Höhe, wiewohl er nur den Sockel und das untere Stockwerk des Schlosses enthielte, dem Dachborde der Altstadt ungefähr gleich käme, so daß also die Architekturverzierung des Schlosses eigentlich in der Höhe erst anfinge, wo sie bei den Privathäusern aufhörte, und sich dann in der fast doppelten Höhe dieser Häuser über solche erhöbe", kommentierte Engelhard (Engelhard 1845/1, S. 58).
Nachdem die grundlegende Gestalt des Baues festgelegt worden war, erfolgten Änderungen nur noch in Hinsicht auf die Aufteilung der Innenräume und die Fassadengestaltung. Wesentliche Änderungen betrafen vor allem das Treppenhaus auf der linken Seite des Vestibüls. Die zunächst vorgesehene einfache Treppe wurde später durch einen repräsentativen doppelarmigen Aufgang ersetzt - in Anlehnung an barocke Treppenhauskonstruktionen, wie beispielsweise in der Würzburger Residenz, die Jussow ausführlich studiert hatte (vgl. das Manuskript im Nachlaß Jussow, mhk, Graphische Sammlung).
Unter Leitung von Oberbaudirektor Heinrich Christoph Jussow, assistiert von Johann Daniel Engelhard, wurde über den vorher gründlich untersuchten Fundamenten des 1816 endgültig abgerissenen Schlosses mit den Bauarbeiten für die neue Residenz begonnen. Die Fundamentierung gestaltete sich aber aufgrund des morastigen Untergrunds so mühselig und langwierig, daß erst 1819 mit der Anlage der Grundmauern begonnen werden konnte. Am 27. Juni 1820 war die feierliche Grundsteinlegung, Jussow erhielt aus diesem Anlaß die Würde eines "Ritters des Goldenen Löwenordens" (Dittmer 1827). Die Namensgebung der Residenz erfolgte am selben Tag durch den Kurfürsten persönlich (Holtmeyer 1923, S. 317).
Obwohl die Arbeiten jetzt mit zusätzlichen soldatischen Arbeitskräften zügig fortgesetzt werden konnten, war das Erdgeschoß nur bis zu den Fensterlaibungen gediehen, als der Kurfürst am 21. Februar 1821 starb. Sein Nachfolger Wilhelm II. (1777-1847) zeigte wenig Neigung, den Bau fortzusetzen. Um 1830 beschäftigte sich Engelhard noch einmal mit Ideen zum Weiterbau der Chattenburg (GS 16760, GS 16753). Der letzte Kurfürst Friedrich Wilhelm I. (1802-1875), der 1831 an die Regierung kam, war einer Weiterführung des Schloßbaus zunächst nicht abgeneigt. Im Januar 1832 legte der neue Oberhofbaumeister Julius Eugen Ruhl "zwey Entwürfe zur Fortbauung der Cattenburg und die deshalb aufgestellten Kostenvoranschläge" auf der Basis der schon errichteten Mauern vor (StAM Best. 7b 1/159, die Pläne unter StAM 300 P II 9578/6+7). Ebenso wie weitere Pläne, auf den vorhandenen Bauteilen ein Verwaltungsgebäude zu errichten, blieb aber auch dieses Projekt aufgrund der hohen Kosten unausgeführt (Holtmeyer 1923, S. 317). 1845 äußerte sich Engelhard nochmals in einem Aufsatz in der "Allgemeinen Bauzeitung", in dem er einerseits den gewählten Platz als ungünstig kritisierte, andererseits aber die Solidität der bereits fertiggestellten Bauteile lobte: "Was gemacht ist, verfällt übrigens nicht und verdirbt nicht und sollte es noch hundert Jahre so stehen wie es jetzt steht, denn alles ist überaus massiv von gutem Material aufgeführt" (Engelhard 1845/1, S. 62). Seine in diesem Zusammenhang vorgestellte Idee, einen neuen Bau unter Verwendung der alten Mauern auf dem Friedrichsplatz aufzuführen, fand jedoch keinen Anklang.
Die Ruine des riesigen Baues wurde zunehmend zum Stein des Anstoßes für die Anwohner, da sich immer wieder zwielichtige Gestalten in dem weiträumigen Gelände ansiedelten, wie die Polizeiakten vermerken. 1870 wurden deshalb die großen Steine aus rotem Sandstein, auf deren Beschaffung Jussow viel Mühe verwandt hatte, wieder abgetragen und zum Bau der Gemäldegalerie benutzt. 1880 entstand schließlich an der Stelle des alten Landgrafenschlosses das Regierungs- und Justizgebäude. Ein neues Residenzschloß wurde nicht mehr errichtet.

Stand: Mai 2005 [UH]




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