1.16 Gemäldegalerie (Neue Galerie)


Die nach Plänen von François Cuvilliés d. Ä. 1749-1752 an der Schönen Aussicht errichtete Galerie, die Prinz Wilhelm, der spätere Landgraf Wilhelm VIII., als Flügelbau für seine Gemäldesammlung in Auftrag gegeben hatte, war unter der Regentschaft von König Jérôme als Teil seiner provisorischen Residenz umgestaltet und der hohe Galeriesaal durch die Einziehung einer Zwischendecke im oberen Geschoß zweckentfremdet worden (Herzog 1983, S. 133). Ein öffentlicher Museumsbau mit ausreichend großen, den modernen Bedürfnissen angepaßten Räumen fehlte.
Die neue politische Lage, die mit der Annexion des Kurfürstentums Hessen durch Preußen eintrat, schuf unvermittelt die Voraussetzungen für einen Neubau. Auf Initiative des Oberpräsidenten der preußischen Regierung, Eduard Möller, wurde eine neue Galerie neben dem Palais Bellevue errichtet. Dem Neubau mußte der seit 1866 funktionslose Bellevue-Marstall weichen, dessen Abbruch im April 1871 in Angriff genommen wurde. Damit entschied sich das Ministerium der geistlichen Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten gegen den ebenfalls begutachteten und von der königlichen Generalverwaltung favorisierten Bauplatz auf dem Gelände der nur teilweise ausgeführten Chattenburg (Martin 1983, S. 15f.), die seit 1821 als Bauruine bestand. Der unter Kurfürst Wilhelm I. als Stadtschloß geplante Bau wurde nun abgebrochen, da die roten Sandsteine für die Verblendung aller Außenseiten des Neubaus mit Quadersteinen und die Bruchsteine für die Fundamente zu nutzen waren.
Mit der Entwurfsplanung wurde der damalige Potsdamer Regierungsrat Heinrich von Dehn-Rotfelser beauftragt, der bereits Gutachten für die zur Auswahl stehenden Bauplätze erstellt hatte. Zusätzlich fiel ihm die Aufgabe zu, Nutzungsvorschläge für die Galerieräume im Bellevueschloß zu machen, die nach dem ’Auszug’ der Gemäldesammlung der Kunstakademie zur Verfügung stehen sollten (s. GS 15661 - GS 15665). Um sich Kenntnisse über den modernen Museumsbau anzueignen, erhielt Dehn-Rotfelser ein großzügiges Reisestipendium von der preußischen Regierung (Herzog 1983, S. 134) und konnte so die neuen deutschen, englischen und französischen Museumsbauten persönlich in Augenschein nehmen (Dehn-Rotfelser 1878/2, S. If.).
Da er erste "Planskizzen" bereits mit den Gutachten eingereicht hatte (Dehn-Rotfelser 1878/2, S. I), vermutet Otto Martin, das Grobkonzept hätte bereits vor Dehn-Rotfelsers Reisen vorgelegen und seine Studien zielten allein auf die Raumdisposition und die Beleuchtungssituation (Martin 1983, S. 17). Der ausgeführte Bau verdeutlicht indes die Rezeption der Alten Pinakothek in München nach dem Entwurf Klenzes, wie Dehn-Rotfelser in einer baugeschichtlichen Einführung im ersten Sammlungskatalog auch ohne Umschweife bekundet (Dehn-Rotfelser 1878/2, S. III).
Die ersten, im August 1870 eingereichten Pläne haben sich nicht erhalten. Nur anhand eines Gutachtens des Ministeriums können Rückschlüsse auf diesen ersten Entwurf und dessen nicht realisierte Elemente gezogen werden. Demnach hatte Dehn-Rotfelser zunächst einen raumgreifenden, flach gedeckten Vorbau als Entreebereich eingeplant, der jedoch abgelehnt wurde. Abschlägig beurteilt wurde auch der Dachabschluß in Gestalt einer Attika mit bekrönenden Vasen (Martin 1983, S. 18). Im November 1871 reichte er die überarbeiteten Pläne ein (Martin 1983, S. 20). Mit den Fundamentarbeiten wurde noch 1871 begonnen, bereits drei Jahre später konnte das Gebäude überdacht werden. Am 28. Dezember 1877 wurde die Galerie eröffnet. Neben Dehn-Rotfelser war der spätere Kreisbaumeister August Schuchard, ab 1874 Baumeister Paul Hofmann (s. GS 18650) sowie nacheinander die Bauführer Eubell, Gabe (s. GS 18651) und Gustav Krause (s. GS 18650) aus Berlin am Bau beteiligt (Dehn-Rotfelser 1882, S. Vf.).
Von den sieben Kasseler Blättern können nur zwei der Planungs- und ersten Bauphase zugerechnet und Dehn-Rotfelser selbst zugeschrieben werden (GS 18305 u. GS 18306). Drei Blätter sind als Revisionszeichnungen für Handwerkerabrechnungen ausgewiesen und gehören zur letzten Bauphase (GS 18286, GS 18650, GS 18651). Zwei Zeichnungen mit Teilgrundrissen, die erst 1914 angefertigt wurden, stehen vermutlich mit dem Bau des Hessischen Landesmuseums in Zusammenhang und dokumentieren wohl Überlegungen, Sammlungsteile umzugruppieren (GS 18652, GS 18653).
Die Kasseler Galerie entstand als zweigeschossiger, langgestreckter (89,30 m) Mitteltrakt mit Oberlichtsälen im Obergeschoß für die Gemäldesammlung, einer Flucht von Seitenlichtkabinetten an der Nordseite und einer Loggia im Süden. Als Kopfbauten wurden nahezu quadratische Eckpavillons errichtet, die nur an der Südseite deutlich aus der Mauerflucht vorkragen. Diese wurden mit weiteren Seitenlichtsälen belegt. Das Erdgeschoß war für die als ungeordnet eingeschätzten Sammlungsteile sowie die Verwaltung- und Magazinräume bestimmt. Zunächst sollte hier die naturkundliche Abteilung präsentiert werden (Katalog Kassel 2001/1, S. 23), gezeigt wurden schließlich die Gipsabgüsse und das Kunsthandwerk. Erst durch den Neubau des Hessischen Landesmuseums erhielten die kostbaren Objekte des Kunsthandwerks eine ihnen zukommende Präsentationsfläche.
Die wichtigste Schriftquelle zu den Entwürfen ist die von Dehn-Rotfelser im "Verzeichnis der in dem Lokale der Neuen Gemälde-Gallerie zu Cassel befindlichen Bilder" (Kassel 1878, S. I-XVI; identischer Text im Verzeichnis, das 1882 erschien) als Einleitungstext eigenhängig verfaßte baugeschichtliche Abhandlung und die verkürzte und leicht veränderte Version (vor allem in bezug auf "Die Beleuchtung der Gemälderäume"), die 1879 in der "Zeitschrift für Bauwesen" publiziert wurde.
Der Neubau erfuhr überwiegend positive Beurteilungen von der zeitgenössischen Kritik. Wegen der ausgezeichneten Belichtung der Säle, dem zurückhaltenden architektonischen Schmuck und den überschaubaren "menschlichen" Maßen bezeichnete Ludwig Justi, Generaldirektor der Berliner Museen, die Kasseler Galerie als die gelungenste Galerie überhaupt (Herzog 1964, S. 32).

Stand: August 2007 [MH]




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