1.29 Ständehaus


Da die im Herbst 1830 einberufene Ständeversammlung wegen der Überlassung des Landständischen Hauses am Friedrichsplatz ("Weißes Palais") an Kurprinz Wilhelm, den späteren Kurfürsten Wilhelm II., über kein eigenes Sitzungslokal mehr verfügte (Losch 1922, S. 193f.; Holtmeyer 1923, S. 392 u. 450; Bidlingmaier 2000, S. 22f.) und sich deshalb zunächst im Bellevueschloß und später im Stadtbau versammeln mußte, stellte sich schnell die Frage nach einem zukünftigen eigenen Gebäude. Nachdem es bereits Ende des Jahres zu einer Einigung zwischen Kurfürst Wilhelm II. und den Ständen auf einen Standort für das Bauwerk am Wilhelmshöher Platz in Verlängerung der Königsstraße gekommen war, setzte eine langwierige und schwierige Planungsgeschichte ein, die bis heute noch nicht in allen Einzelheiten als geklärt angesehen werden kann. Erst Mitte 1834 konnte mit dem Neubau begonnen werden - und dies an einem anderen Ort als zunächst vorgesehen (Holtmeyer 1923, S. 450-455; Ganßauge 1950/1, S. 306-308; Lohr 1984, S. 115f.).
Von einigen der Entwürfe, die verschiedene Kasseler Architekten 1831 und 1832 nach Aufforderung durch die Oberbaudirektion zur Teilnahme an zwei Wettbewerben eingereicht hatten, werden Blätter in der Graphischen Sammlung verwahrt. Sie beziehen sich alle auf den ursprünglich vorgesehenen Standort am Wilhelmshöher Platz. Die Projekte entstanden auf der Grundlage eines von den Ständen vorgegebenen Nutzungsprogramms, das außer dem Sitzungssaal samt Besucherplätzen die Unterbringung von Beratungszimmern, einem feuerfesten Archiv, der Repositur und Expedition sowie von zwei Wohnungen für den Landsyndikus und den Pedell forderte. In formaler Hinsicht gab es offensichtlich, wie bereits von Holtmeyer und Lohr festgestellt, keine Auflagen, so daß die in der Graphischen Sammlung vorhandenen Vorschläge von Oberbaudirektor Bromeis (L GS 12560, L GS 12641, L GS 13127), Oberbaumeister Engelhard (GS 15814, GS 15857, GS 16736, GS 16744, GS 16761), Architekt Wolff (L GS 15186 - L GS 15190, L GS 15320) und Landbaumeister Ruhl (v. a. GS 12577, L GS 12582, L GS 13888 - L GS 13889; L GS 12580 - L GS 12581 u. L GS 12583; GS 12575, L GS 12574 u. L GS 12579) eine große gestalterische und stilistische Spannbreite aufweisen, die von streng klassizistischen Entwürfen (vgl. auch diejenigen von Oberbaurat Rudolph; StAM Best. P II 3590, 1-7) bis zu drei von Ruhl präsentierten Projekten in Anlehnung an italienische Renaissancearchitektur reichen.
Die Entscheidung fiel zugunsten von Ruhl, nachdem Bromeis im Oktober 1833 durch einen eigenen Entwurf nochmals vergeblich versucht hatte, sich ins Spiel zu bringen. Auf der Grundlage von Ruhls Projekt B wurde das Gebäude schließlich von 1834 bis 1836 an der neu angelegten Friedrich-Wilhelms-Straße unter der Bauleitung von Oberbaurat Rudolph ausgeführt.
Die Planungs- und Baugenese ist von den ersten Ideenskizzen Ruhls bis zu Werkzeichnungen anhand des Bestands in der Graphischen Sammlung nachvollziehbar. Dabei verdient eine Serie von Entwürfen, die in bemerkenswerter Weise Brunelleschis Pazzikapelle von S. Croce in Florenz zitieren, besonderes Interesse (L GS 13664 - L GS 13667). Die Zeichnungen zur Planungs- und Ausführungsphase werden durch einige Blätter zu späteren Erweiterungsüberlegungen ergänzt, die 2006 aus dem Bestand der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen in die Graphische Sammlung gelangten (VSG 1.3.1034,1 - VSG 1.3.1034,13).
Kaum beachtet und noch nie abgebildet wurden die Entwürfe Ruhls für die Ausmalung im Innern des Ständehauses (Lohr 1984, S. 114). Eine Anzahl Blätter zeigt die aus arbeitsökonomischen Gründen jeweils nur zur Hälfte dargestellten Vorlagen zu Groteskendarstellungen, die für die Gewölbe von Atrium, Vestibül und Treppenhaus bestimmt waren. Wie die Auswertung der Skizzenbücher des Architekten in der Graphischen Sammlung ergab, verarbeitete Ruhl dabei Vorbilder aus einem bislang noch nicht identifizierten Gebäude in Genua, das er im Sommer 1836 besucht hatte (vgl. Skizzenbuch GS 5409, fol. 4-7; Holtmeyer 1923, S. 457). Für die Geschäftsräume war eine zurückhaltende lineare Ornamentik vorgesehen (L GS 13677). Zu diesen Dekorationsformen stand das Zimmer, das der Kurprinz und Mitregent entgegen der ursprünglichen Planung für sich in Anspruch nahm, mit einer gotisierenden Ausstattung in starkem Kontrast (Marb. Dep. 158 u. L GS 13680). Während, wie ein bisher kaum beachteter Brief Wilhelm Grimms von 1836 belegt (vgl. hierzu Marb. Dep. 158), hier offenbar Ludwig Sigismund Ruhl, der Bruder des Architekten, mitgewirkt hat, führte Johann Christian Ruhl, der Vater der beiden, die Stuckarbeiten im Ständesaal aus (Lobe 1837, S. 67f.; Ganßauge 1950/1, S. 308; Riedl 1993, S. 134).
1839 brachte Ruhl ein Stichwerk mit Darstellungen des Ständehauses heraus (Architectonische Entwürfe theils ausgeführter, theils zur Ausführung bestimmter Gebäude, von Julius Eugen Ruhl. Das Ständehaus zu Cassel. Zwei Lieferungen in einem Band), das den Vergleich zwischen den Entwürfen und dem ausgeführten Gebäude erlaubt, dessen originale Bausubstanz durch Um- und Anbauten (Holtmeyer 1923, S. 458f.; Katalog Kassel 1986/3, S. 28-30) sowie Kriegsschäden und veränderten Wiederaufbau stark reduziert worden ist.
Ein großer Teil der Zeichnungen Ruhls zum Ständehaus kommt aus dem Bestand des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, den dieser 1901 erhalten hatte (Mitteilungen 1901, S. 15). Zwei wichtige Blätter mit Approbationsvermerken vom Kurprinzen und Mitregenten Friedrich Wilhelm befinden sich im Archiv des Landeswohlfahrtsverbands Hessen.

Stand: August 2007 [GF]




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