1.33 Hauptbahnhof


Zu den bedeutendsten Bauaufgaben des 19. Jahrhunderts zählte der seit den 30er Jahren von England aus sich schnell verbreitende Eisenbahnbau mit seinen zahlreichen, an den Haltepunkten notwendigen Empfangs- und Stationsgebäuden. "Die Eisenbahnen, diese wunderbare Produkzion der technischen Intelligenz unseres Jahrhunderts, stiegen wie Geister aus der Erde; von Bahnhofsgebäuden hatte man früher nichts gewußt", so formulierte es 1847 der Kasseler Architekt Johann Daniel Engelhard in der "Allgemeinen Bauzeitung" (Engelhard 1847, S. 278).
Die erste deutsche Eisenbahnlinie von Nürnberg nach Fürth wurde 1835 eröffnet. 1838 wurden in der "Allgemeinen Bauzeitung" die wichtigsten Regeln für "Depots und Sammelplätze für Waaren und Reisende (Stazionsplätze) bei Eisenbahnen" so definiert: "Bei einem wohl eingerichteten Depot für Reisende und Waaren müssen 1) die abgehenden von den ankommenden Passagieren streng geschieden sein. 2) Muß für die Unterkunft der Passagiere bis zur Abfahrt durch eigene Lokale gesorgt sein, wobei der Bequemlichkeit der Kontrolle halber die Reisenden der verschiedenen Klassen, d. i. die Inhaber der im Preise verschiedenen Fahrkarten, wieder voneinander zu trennen sind. 3) Die Passagiere dürfen weder beim Kommen oder Abgehen, noch sonst unter irgend einer Bedingung die Bahn kreuzen müssen" (Allgemeine Bauzeitung 1838, S. 163).
In Kurhessen setzten die Planungen für den Eisenbahnbau nach langem Hin und Her 1842 mit der Festlegung der ersten Bahnlinien von Kassel nach Bebra und Karlshafen sowie über Marburg nach Frankfurt ein, wobei für Kassel als Umsteigebahnhof eine wichtige Funktion vorgesehen war (Müller 1966). Nach dem Wunsch der kurhessischen Regierung sollte die Stadt entsprechend ihrer Lage sogar Knotenpunkt aller Eisenbahnen Deutschlands werden (Lohr 1984, S. 17). 1844 wurde eine Aktiengesellschaft gegründet, die den Bau der Eisenbahn finanzieren sollte (Denkmaltopographie 2005/1, S. 135ff.). Die kurhessische Ost-West-Verbindung sollte als "Friedrich-Wilhelms-Nordbahn" vom Anschluß der thüringischen Eisenbahn über Kassel bis zur preußischen Grenze bei Haueda führen. Diese Aktiengesellschaft verpflichtete als erstes den belgischen Bahningenieur Frans Splingard für die Planung der erforderlichen Tunnel, Brücken und Dämme der in zwölf Sektionen unterteilten Strecke. Die Planung für die Stationsgebäude wurde 1845 dem Kasseler Hofbaudirektor Julius Eugen Ruhl übertragen, der im März 1846 zum Direktor der kurhessischen Staatsbahnen ernannt wurde. In dieser Funktion war er verantwortlich für die Bauten von vier Eisenbahngesellschaften: der Friedrich-Wilhelms-Nordbahn (Karlshafen - Bebra), der Main-Weser-Bahn (Kassel - Frankfurt), der Hanauer und der Schaumburg-Lippischen Bahn (Haste - Bückeburg). Der nördliche Teil der Strecke von Grebenstein bis Karlshafen wurde 1848 fertiggestellt, während die Strecke Kassel - Guntershausen erst 1849 freigegeben werden konnte. 1866 wurde die Bahn in "Hessische Nordbahn-Gesellschaft" umbenannt, kam 1868 an die "Bergisch-Märkische Eisenbahngesellschaft" und schließlich 1888 an die Preußische Staatsbahn (vgl. Friedrich-Wilhelms-Nordbahn 1948).
Als Standort des Kasseler Hauptbahnhofs schlug Oberbaumeister Daniel Engelhard 1845 die Verlängerung der Friedrich-Wilhelms-Straße auf dem Möncheberg vor. Kurfürst Friedrich Wilhelm I. präferierte allerdings einen Bahnhof in der Nähe seiner Residenz am Friedrichsplatz. Deshalb wurde schließlich der Nordhang des Kratzenbergs als Standort für den Bahnhof ausgewählt.
Zunächst wurde 1847 ein provisorischer Fachwerkbau als Empfangsgebäude nach dem Entwurf von Julius Eugen Ruhl errichtet. Die Werkstätten auf der Südseite der Gleise hingegen wurden bereits in ihrer endgültigen Form in Backsteinmauerwerk ausgeführt. 1848 konnte der Bahnhof vorläufig in Betrieb genommen werden (Denkmaltopographie 2005/3, S. 159ff.).
Im Juni 1854 begann man mit dem Neubau des Kopfbahnhofs für alle drei hier mündenden Bahnlinien (Friedrich-Wilhelms-Nordbahn, Main-Weser-Bahn und Hannoversche Südbahn). Den Entwurf im Rundbogenstil lieferte vermutlich der damalige Hofbaumeister Gottlob Engelhard, wobei die Rolle von Oberbaudirektor Julius Eugen Ruhl, des Leiters der Eisenbahndirektion, unklar bleibt. Der langgestreckte Baukomplex bestand aus dem zwei- bis dreigeschossigen Empfangsgebäude im Osten und den weit nach Westen ausgreifenden schmalen Flügelbauten, die die Gleise einfaßten. Es gab insgesamt drei Bahnsteige mit vier Gleisen, jeweils ein Gleis am Bahnsteig des Nord- und des Südflügels und zwei Gleise am nicht überdachten Mittelbahnsteig. Mithilfe von Drehscheiben konnten die ankommenden Lokomotiven gewendet werden.
1857 war der Bau des stattlichen Empfangsgebäudes "Cassel Oberstadt" bis auf den vermutlich erst 1859 fertiggestellten Nordflügel vollendet (Denkmaltopographie 2005/3, S. 162).

Stand: August 2007 [UH]




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