1.61 Palais Schaumburg


Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Stadtausgang am Ende der Königsstraße durch einen runden Platz gestaltet, in den die ab 1776 angelegte Weißensteiner, später Wilhelmshöher Allee, seitlich einmündete. Heinrich Christoph Jussow entwickelte eine neue sechseckige Platzstruktur, die in dieser Form besser auf das dortige Straßensystem Rücksicht nahm. Die ersten Gebäude an dem 1805 neu gestalteten Platz waren die Wachthäuser des Wilhelmshöher Tores an der Nordwestseite, dem Ausgangspunkt der zum Schloß Wilhelmshöhe führenden Allee. Vermutlich noch 1799 entstand das nach einem Entwurf von Simon Louis Du Ry errichtete Wohnhaus für den Oberappellationsgerichtsrat Philipp Kopp an der Kopfseite des Platzes in der Achse der Königsstraße (Fenner 1998, S. S. 36-39). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging das Gebäude in den Besitz der Landesherrschaft über. 1830 stellte Kurfürst Wilhelm II. diesen repräsentativen Bauplatz der kurhessischen Ständeversammlung zum Bau eines Ständehauses zur Verfügung (Holtmeyer 1923, S. 57, 59 u. 762). Nachdem Julius Eugen Ruhl ab 1832 Entwürfe angefertigt hatte (s. Stadt Kassel, Ständehaus), verzögerte sich die Umsetzung. Im Jahr 1833 entschied Friedrich Wilhelm I., nachdem die Landstände das Grundstück für 6.000 Taler wieder abgetreten hatten, an dieser Stelle das Palais für seine Gemahlin, die Gräfin von Schaumburg, die vormals bürgerliche Gertrude Lehmann, errichten zu lassen und beauftragte ebenfalls Julius Eugen Ruhl mit der Entwurfsplanung. Vorgabe war, die Kasseler Oberneustadt mit einem repräsentativen architektonischen Abschluß zu versehen und gleichzeitig einen Bautyp zu wählen, der sich harmonisch in die vorhandene Bausubstanz (s. Stadt Kassel, Wilhelmshöher Platz, Platzanlage) einfügte.
Die umfangreiche Entwurfsplanung, die allein drei Vorprojekte und sieben Hauptprojekte hervorbrachte, kann einerseits als Hinweis auf die Bedeutung gewertet werden, die diesem Projekt von kurfürstlicher Seite beigemessen wurde, andererseits verdeutlicht sie aber auch die Schwierigkeiten bei der Realisierung dieser Bauaufgabe. Friedrich Wilhelm konnte die Landeskasse nicht mit den Bauausgaben belasten, sondern mußte selbst dafür aufkommen. So wurde die Planung zu einem Feilschen zwischen dem Kurfürsten und dem Hofbaudirektor Ruhl, der abzuwägen hatte zwischen den Notwendigkeiten der Bauplanung, insbesondere was die erforderliche Anzahl der Räume betraf, und der verfügbaren geringen Bausumme von 80.000 Talern.
Der repräsentative Anspruch, der sich zu Planungsbeginn mit dem Projekt verband, wird besonders durch die drei Vorprojekte deutlich, bei denen Ruhl den höfisch-klassizistischen Schloßtypus variierte. Das als Zweiflügelanlage konzipierte Gebäude sollte dabei direkt an das südwestliche Wachtgebäude anschließen.
Die Vorprojekte zeigen einen dreigeschossigen Gebäudekomplex, der jeweils mit Aufriß und drei Grundrissen präsentiert wird. Bemerkenswert ist, daß sich Ruhl bei der Aufrißgestaltung auf den Hauptflügel beschränkte und den Seitenflügel aussparte. Im Gegensatz zu den Folgeprojekten orientierte er sich hier noch an der bereits vorhandenen Bebauung am Wilhelmshöher Platz. Auf den Entwurf des damaligen Oberbaudirektors Heinrich Christoph Jussow geht das dreigeschossige Gebäude der Tapetenfabrik Arnold zurück. Die klassizistische Fassadengestaltung mit der ionischen Kolossalordnung, die Jussow im übrigen auch für das Haus des Maurermeisters Seidler, ein an der Nordwestseite des Platzes geplantes Gebäude, vorgesehen hatte, sollte dem Platz ein repräsentatives Erscheinungsbild mit städtebaulicher Wirkung verleihen. Die ausgeführte Fassadengestaltung blieb allerdings hinter der von Jussow geplanten Konzeption zurück (Fenner 1998, S. 38-41).
Die einzelnen Blätter sind Teil eines Klebebandes, den Ruhl eigenhängig zusammengestellt hat. Bemerkenswerterweise haben alle Blätter die zum Wasserzeichen "RUSE & TURNERS" gehörende Datierung "1815". Im allgemeinen wurde Papier in einem Zeitraum von fünf Jahren verwendet, was in diesem Fall jedoch auszuschließen ist. Für eine vor den 1830er Jahren stattfindende Planung konnte kein archivalischer Beleg gefunden werden.
Erst die Folgeprojekte zielten auf ein autonomes Gebäude ab, für das zwar ebenfalls eine repräsentative Bauform gewählt wurde, die durch eine dem italienischen Palazzotyp verpflichtete Formensprache jedoch zurückhaltender ausfällt. Vorbildhaft bei der Fassadengestaltung wirkte insbesondere die von Leo von Klenze für München entwickelte Wohnhausarchitektur (s. Leuchtenberg-Palais, Wohnhäuser am Odeonsplatz und in der Ludwigstraße). Mit dem Argument, eine größere Vollkommenheit des beabsichtigen Baues anzustreben, hatte Ruhl den Kurfürsten gebeten, "die Besichtigung der bereits seit dem Jahr 1817 in München entstandenen Bauten [...] gnädigst zu gestatten" (StAM Best. 300 Hessen-Rumpenheim, A 19, Nr. 26, 2.6.1836). Zwar kam der Kurfürst dem Wunsch nach, ob sich Ruhl dann jedoch tatsächlich auf die Reise begeben hat, ist nicht überliefert. Allerdings lassen die Ähnlichkeiten der Entwürfe von Ruhl mit den Münchener Gebäuden dies vermuten.
Bei der Grundrißplanung spielte Ruhl unterschiedliche Strukturen durch: Er entwarf einen H-förmigen Grundriß mit abgeschlossenem Vorhof entsprechend dem französischen Hôteltyp beim ersten, vierten und fünften Projekt, einen pavillonartigen, U-förmig angelegten Gebäudekomplex mit einem Haupt-, zwei Neben- und oktogonalen Zwischenbauten beim zweiten Projekt, einen ebenfalls U-förmigen Gebäudekomplex beim dritten Projekt sowie eine Vierflügelanlage mit hinteren Eckpavillons beim sechsten und eine Variation der U-förmigen Struktur durch vorkragende seitliche Raumkompartimente beim siebten Projekt. Dabei unterscheidet sich die siebte und letzte Entwurfsserie von allen anderen Projekten sowohl hinsichtlich der auffälligen Gestaltung im Stil der ’castellated gothic’, als auch in der Datierung, der Provenienz sowie der fehlenden Ordnungszahl auf den Blättern von allen anderen Projekten. Die Serie entstand erst im Jahr 1842, als die Neubaupläne nicht mehr bestanden. Statt dessen war die Nutzung des neben dem Residenzpalais liegenden ehemaligen Wohngebäudes der Gräfin von Reichenbach in der Königsstraße beschlossen und die notwendigen Umbaumaßnahmen bereits weit fortgeschritten (StAM Best. 300 Hessen-Rumpenheim, A 41, Nr. 2). Warum Ruhl in dieser Situation nochmals eine Serie mit Entwürfen anfertigte, ist unklar. Die Serie ist als einzige nicht Teil des Marburger Depositums, sondern sie kam zusammen mit einer Anzahl von Skizzenblättern zum Neuen Palais vom Verein für hessische Geschichte und Landeskunde als Dauerleihgabe an die Museumslandschaft Hessen Kassel. Eines der beiden Konvolute stammt vermutlich aus dem Besitz von Julius Eugen Ruhl selbst. Nachvollziehbar wird dies durch einen Aktenvorgang. In einem Brief des Kurfürsten vom 14.4.1864 an den Oberbaurat Engelhard verlangte dieser die Aushändigung der "Risse und Pläne, welche zum Zwecke des beabsichtigten Schloßbaues an Stelle des ehemaligen Kopp'schen Gartens am Weinberge genehmigt worden sind, und bei unser Hofbau-Direktion aufbewahrt sein müssen" (StAM Best. 300 Hessen-Rumpenheim, A 41, Nr. 2, 14.4.1864). Engelhard antwortete noch am selben Tag, daß sich "in der Repositur der Hofbaudirektion [...] nur Kostenanschläge aber keine Zeichnungen vorfinden und letztere auch zu der Zeit wo der [...] Unterzeichnende die Direktion der genannten Behörde übertragen worden war, sich nicht vorgefunden haben". Er äußerte die Vermutung, "daß die fraglichen Pläne wahrscheinlich in Händen des damaligen Hofbaudirektors Ruhl verblieben sein mögen" (StAM Best. 300 Hessen-Rumpenheim, A 41, Nr. 2, 15.4.1864).

Stand: August 2007 [MH]




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