1.72 Unterneustädter Kirche


Nach der Fertigstellung der neuen Fuldabrücke 1794 wurde im folgenden Jahr die mittelalterliche Magdalenenkirche auf dem Holzmarkt abgebrochen, da sie der erwünschten geradlinigen Straßenführung zum Leipziger Platz im Weg stand. Darüber hinaus war sie mit den vom Landgrafen geplanten städtebaulichen Veränderungen in der Unterneustadt nicht in Einklang zu bringen. Da der Abbruch der alten Kirche eine Folge der Brückenanlage war, mußte Wilhelm IX. für einen Neubau sorgen.
Bereits im Zusammenhang mit dem Brückenbau hatte Jussow Vorschläge zur Umgestaltung des Marktes und zum Neubau einer Kirche erarbeitet, die im Aufriß GS 5885 und in einem Situationsplan erhalten geblieben sind (Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, HP 29,1).
Eine Variante sah vor, die alte Kirche in der Mitte des Platzes, der eine regelmäßige Form erhalten sollte, beizubehalten. In zwei anderen Versionen wurde ein Neubau einmal in die Achse der neuen Brücke, das andere Mal seitlich der Straße auf einen rechteckigen Platz gestellt. Von diesen Ideen wurde keine verwirklicht.
Die Unterneustädter Gemeinde blieb 14 Jahre lang ohne Kirche, nachdem der Vorschlag Wilhelms IX., ein Gebäude des Jägerhofs für diesen Zweck umzugestalten, auf Ablehnung gestoßen war (die Pläne wurden von Simon Louis Du Ry angefertigt; vgl. auch Holtmeyer 1923, S. 203, Taf. 141,1).
1796 zeichnete der Sohn des Oberbaudirektors Simon Louis Du Ry, Charles Louis Du Ry, in Rom einen Entwurf für einen Kirchenbau in der Unterneustadt, der bei der Akademieausstellung des Jahres 1796 in Kassel gezeigt wurde (GS 12514 u. GS 13827; vgl. Gerland 1895, S. 172-174 und den Briefwechsel von Charles Louis Du Ry mit seinem Vater ab Oktober 1795, Marb. Dep. II, 413.7).
Nach wiederholten Bitten der Gemeinde ging im August 1800 die Weisung des Landgrafen an Jussow, "nunmehr einen Plan mit möglichsten Kosten Ersparnis unterthänigst einzureichen" (Resolution vom 13. August 1800; StAM Best. 5, Nr. 10118, fol. 29v; dieser bisher unbeachtet gebliebene Archivbestand gibt detaillierte Auskünfte über den Verlauf von Planung und Erbauung der Unterneustädter Kirche).
Wie schon 1788 sollte auch diesmal das Bauvorhaben mit umfangreichen städtebaulichen Umgestaltungen verbunden werden. Der Landgraf wollte den zwischen Brücke und Leipziger Platz gelegenen Teil der Unterneustadt in ein Quartier umformen, dessen regelmäßiges Blockraster auf den neuen Kirchenbau am Stadtrand im Bereich des Leipziger Platzes bezogen sein sollte. Ein von Jussow signierter und auf 1802 datierter Situationsplan zeigt dazu zwei Varianten (Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, HP 29,2; Abb. von Ausschnitten bei Holtmeyer 1923, Taf. 20,2 u. 20,3; der Plan umfaßt auch Teile der Altstadt mit einem Neubauprojekt für ein Lagergebäude anstelle des alten Packhofes an der Fulda; der dreigeschossige Bau mit vorgelegter Treppenanlage ist hier in einer aquarellierten Ansicht wiedergegeben). In einer davon ist als Abschluß der Platzanlage, in der die neue Kirche zu stehen kommen sollte, ein neues Stadttor vermerkt. Dieses ist auf dem Blatt Marb. Dep. 47a zusammen mit einer Ansicht des Kirchenprojekts dargestellt.
Die weniger aufwendige andere Variante des Situationsplans von 1802 beläßt den ovalen Leipziger Platz in seiner Form. Beide städtebaulichen Varianten zeigen einen längsrechteckigen Kirchenbau mit apsidialem Abschluß und viersäuligem Portikus. Es handelt sich dabei um das Projekt, das Jussow in dem Grundriß GS 6255 und dem Aufriß GS 6254 dargestellt hat. Zusammen mit zwei weiteren Alternativen, die sich am Vorbild des Pantheons orientieren, bildet es eine Serie von drei Vorschlägen für Bauten von monumentaler Wirkung. Die drei Entwürfe zu diesen Gotteshäusern, die von Jussow selbst signiert und datiert sind, befinden sich in der Murhardschen Bibliothek der Stadt Kassel (Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, HA 3a 1 u. 3a 2; 3b 1 u. 3b 2; 3c 1 u. 3c 2). Bei den in der Graphischen Sammlung vorhandenen Blättern GS 6252, GS 6253, GS 6254 und GS 6255 handelt es sich um Kopien, die von Jussow selbst oder einem Mitarbeiter aus dem Baubüro angefertigt wurden (Manuskript Schuchard/Dittscheid).
Von diesen großangelegten städtebaulichen Plänen wurde nichts verwirklicht. Das Kirchenprojekt mußte auf Wunsch des sparsamen Landesherrn gegenüber den ersten Entwürfen deutlich reduziert werden.
Drei Standorte für den neuen Kirchenbau wurden in Erwägung gezogen. Wie schon 1788 dachte man an die Plazierung auf dem Holzmarkt in der Achse der Brücke oder alternativ seitlich der Straße. Als dritter Vorschlag kam der Leipziger Platz hinzu. Jussow favorisierte die Plazierung seitlich der Straße, Wilhelm IX. entschied sich aber für den Leipziger Platz.
Am 17. Mai 1802 wurde der Grundstein zu dem neuen Gebäude gelegt, zu dessen Entwurf Jussow "[...] blos das nothwendige zum Zweck gemacht, alle innere und äußere Verzierung vermieden und ihre Größe möglichst beschränkt" hatte (Bericht Jussows vom 5. März 1805; StAM Best. 5, Nr. 10118, fol. 20r-21v).
Das Gebäude wurde im Oktober 1808 unvollendet eingeweiht, um eine Verwendung als Heumagazin durch den westphälischen Kriegsminister zu verhindern (StAM Best. 315e, Kassel, III,2). Erst 1812 erhielt die Kirche eine Kanzel, die aus der Garnisonkirche übernommen wurde; eine Orgel gab es 18209 (Holtmeyer 1923, S. 204).
Das Bauwerk brannte im Zweiten Weltkrieg aus und wurde später abgebrochen.

Text übernommen aus Katalog Kassel 1999/CD-Rom, überarbeitet Mai 2005 [GF]




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