12.13 Säulenordnungen


Seit der Renaissance galten die zehn Bücher zur Architektur ("De architectura libri decem") des antiken Baumeisters Vitruv als wichtigstes architekturtheoretisches Werk für die Beschäftigung mit den Säulenordnungen. Im 4. Buch behandelte Vitruv die sog. genera von Tempeltypen. Die diesen zugrundeliegenden Proportionen stellen sich als Verhältnis absoluter Zahlen und Maßverhältnisse in Analogie zum menschlichen Körper dar. Dabei liefert Vitruvs Definition von Proportion keine allgemeine Lehre im Rahmen anwendbarer Zahlensysteme. Proportion ist dann vorhanden, wenn den Baugliedern und dem Gesamtbau ein berechneter Teil (modulus) als gemeinsames Maß zugrunde liegt. Die Berechnung geht von den Säulendurchmessern (embater) aus. Erst mit Beginn der Renaissance erfolgte eine Systematisierung dieses komplexen vitruvianischen Gedankengutes, das unter dem Begriff 'Säulenordnung' gefaßt wurde (Knell 1991; Kruft 1991, S. 28).
Ein Vergleich der Vorgaben Vitruvs mit der erhaltenen antiken Bausubstanz zeigte den frühneuzeitlichen Baumeistern, daß zwischen Theorie und Praxis Unterschiede bestanden. Nicht völlig eindeutige Textpassagen boten zudem einen Interpretationsspielraum. In der Konsequenz bedeutete dies, daß die neuzeitlichen Architekturtheoretiker, die sich zwar häufig auf Vitruv beriefen, teilweise voneinander abweichende Ergebnisse bei der Vorstellung der fünf antiken Säulenordnungen erzielten. Die erste systematisierte Architekturtheorie entstand mit Sebastiano Serlios Regelwerk für Architekten "Regole generali di architettura sopra le cinque maniere degli edifici [...]" (Serlio 1537), in dem auch die Säulenordnungen behandelt werden. Im Verlauf des 4. Buchs legte Serlio die fünf Säulenordnungen in ihrer Säulenhöhe als ganzzahlige Vielfache ihres unteren Säulendurchmessers fest, was zu der Entstehung eines starren Kanons führte. Im sakralen und profanen Bereich werden die Ordnungen der Bedeutung und Bestimmung des Hauses zugeordnet (Kruft 1991, S. 80-83).
Bezogen auf den Aspekt der "Säulenordnung" bei Vitruv gilt die Abhandlung "Regola delli cinque ordini d'archittura" Giacomo Barozzis da Vignolas (Vignola 1562) als wichtigstes rezeptionsgeschichtliches Werk. Das reich bebilderte Buch begründete einen neuen Typus des architekturgeschichtlichen Lehrbuchs und stellt bis ins 19. Jahrhundert eine wichtige Grundlage für jede architekturtheoretische Unterweisung dar. Vignola zielte dabei auf eine Festlegung der Maße für die fünf Säulenordnungen durch eine allgemein gültige Verfahrensweise und dadurch auf ein verläßliches Proportionssystem. Seine empirisch gewonnenen Proportionen sind vom vorhandenen Baubestand abgenommen, wobei er sich z. B. bei seinen Angaben zur dorischen Ordnung auf das Marcellus-Theater in Rom bezieht. Seine rechnerische Grundlage bildet dabei kein gebräuchliches Maßsystem, sondern einen Modul, in den jedes Maß einsetzbar ist. Der Modul, der wiederum in 30 Partes (Minuten) unterteilt werden kann, ist als unterer Säulenhalbmesser definiert. Für das Verhältnis von Modul zu Säulenhöhe ergeben sich seinen Studien am Baubestand der einzelnen Ordnungen zufolge folgende Werte: 14 (toskanisch), 16 (dorisch), 18 (ionisch), 20 (korinthisch oder komposit). Durch diesen Wert ist das jeweilige Säulenmaß zu teilen, das sich wiederum aus dem Verhältnis von Gebälk, Piedestal und Säulenhöhe ergibt. Bei allen Ordnungen nimmt das Gebälk 1/4, das Piedestal 1/3 der Säulenhöhe ein (Thoenes 1983, S. 347-350; Kruft 1991, S. 88f.).
Weite Verbreitung erfuhr neben Vignolas Lehrbuch das Werk "I quattro libri dell'architettura" des norditalienischen Baumeisters Andrea Palladio, das als Teil eines zehnbändig geplanten Architekturtraktats im Jahr 1570 erschien (Palladio 1570). Palladio übernahm die kanonisierten Säulenordnungen von Serlio und Vignola, stellte aber in einem Modulsysten zwischen den Ordnungen, Säulenproportionen und Interkolumnien eindeutige Proportionsverhältnisse her. Wie sich anhand der Verwendung der attischen Basis bei der dorischen Säule zeigt, hatte er sich bereits weitgehend von der antiken Architektur distanziert (Kruft 1991, S. 99).
Vincenzo Scamozzi, ein Schüler Palladios, plante ebenfalls ein zehnbändiges Architekturtraktat ("L'Idea dell'Architettura Universale"), von dem jedoch nur Bd. 1-3 und 6-8 (Scamozzi 1615) veröffentlicht wurden. Es erfuhr nicht die gleiche Breitenwirkung wie andere Säulentraktate. Seine Darstellung der Säulenordnung im Band VI basiert zwar auf Serlio, ihre Festschreibung auf der Grundlage von Naturgesetzen geht jedoch darüber hinaus (Kruft 1991, S. 112).
Die ausschließlich rezeptionsgeschichtliche Ebene wurde verlassen, als im Zusammenhang mit der Gründung der französischen "Académie Royale d'Architecture" unter dem Staatsminister Colbert der Ruf nach einer neuen, französischen Ordnung Gestalt annahm (Philibert Delorme). In der Folge entwickelte sich ein Streit zwischen dem Direktor der Architekturakademie, François Blondel, und Claude Perrault, der als Schöpfer der Ostfassade des Louvre in die Architekturgeschichte einging. Dabei hielt Blondel an der normativen Proportionslehre als einer Analogie von Architektur und menschlichem Körper fest, während für Perrault die Proportionen kein Naturgesetz bedeuteten, sondern durch Gewohnheit und Tradition bestimmt waren (Kruft 1991, S. 152).
Als ein grundlegendes Konstruktionselement der Architekturgestaltung gehörte die Lehre von den Säulenordnungen zu jeder bauakademischen Ausbildung (Knackfuß 1908, S. 62 u. 144). In Kassel war mit dem Collegium Carolinum 1709 eine Lehranstalt für die Vorbereitung auf das Universitätsstudium begründet worden. An der Kunstschule, einer Teilinstitution des Collegiums und Vorgängerin der Kunstakademie, gehörte ab 1766 das Fach "bürgerliche Baukunst" zum Unterrichtsplan (Knackfuß 1908, S. 10f.; Heinz 2000, S. 213). Den Unterricht gestaltete hier Simon Louis Du Ry (Fenner 2002, S. 234).

Stand: September 2004 [MH]




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