3.101.1.3 - Riede, Entwurf zu einem neogotischen, ruinösen Parkgebäude, perspektivische Ansicht



3.101.1.3 - Riede, Entwurf zu einem neogotischen, ruinösen Parkgebäude, perspektivische Ansicht


Inventar Nr.: GS 6042
Bezeichnung: Riede, Entwurf zu einem neogotischen, ruinösen Parkgebäude, perspektivische Ansicht
Künstler: Heinrich Christoph Jussow (1754 - 1825), Architekt/-in, fraglich
Datierung: um 1800
Geogr. Bezug: Riede
Technik: Graphit, Feder in Braun, grau und braun laviert
Träger: Papier
Wasserzeichen: keine Angabe
Maße: 24,7 x 30,5 cm (Blattmaß)
Maßstab: -
Beschriftungen:


Katalogtext:
Bei dieser Zeichnung handelt es sich um eine originelle Ideenskizze zu einem ruinösen Gartenpavillon im gotischen Stil in einem inszenierten Landschaftsgefüge.
Das Gebäude besteht aus einem zweigeschossigen, dreiachsigen Mittelrisalit, der von zwei eingeschossigen Seitenteilen zu jeweils einer Achse flankiert wird. Der gesamte Pavillon endet im oberen Bereich in ruinösem, pittoresk ausgebrochenen und von Strauchwerk bewachsenen Mauerwerk. Über dem rechten Gebäudetrakt erhebt sich ein filigraner, vermutlich hölzerner Turmaufbau. Die genaue Lage und die Verankerung des Turmes, der sich in fünf schmalen Spitzbogen zur Landschaft öffnet, ist nicht genau auszumachen. Der Mittelrisalit besitzt im Unter- und im Obergeschoß jeweils eine Loggia. Die untere öffnet sich zum Park mit hohen Spitzbogen, hinter denen schemenhaft vierlanzettige Maßwerkfenster auszumachen sind. Schmale Pilaster, die an die Dienste mittelalterlicher Architektur erinnern, betonen die Achseinteilung. Während sich der Abschluß des ersten Geschosses, ein Rundbogenfries, über die gesamte Breite des Gebäudes zieht und so den Mittelrisalit und die Fassadenrücksprünge formal verbindet, wird die Mitte durch die Brüstung der Loggia im Obergeschoß zusätzlich akzentuiert. Auch diese Loggia besitzt spitzbogige Öffnungen. Diese sind jedoch niedriger und an den Pfeilern jeweils mit einer Engelsskulptur versehen. Die rückwärtige Wand wird von Achtpässen durchbrochen. Die Loggien erinnern eher an italienische Villen der Renaissance, denn an mittelalterliche Architektur, wie auch der Grundriß des Gartenpavillons kaum von Landhäusern im Palladianischen Stil zu unterscheiden sein wird. Die gotisierenden Stilelemente, wie das Maßwerk oder die Achtpässe, scheinen diesem Typus der Villa gleichsam vorgeblendet worden zu sein. Auffällig sind die verschiedenen religiösen Symbole, wie das den Turm bekrönende Kreuz oder die Engelsskulpturen am Mittelrisalit, mit dem der Bau geschmückt wird.
Eingefügt ist dieses Gebäude, auf dessen Funktion nicht unmittelbar von der Gestaltung zu schließen ist, in einen durch Felsformationen und differenziert dargestellte Baumgruppen gegliederten Landschaftsausschnitt. Die Einbettung eines Entwurfs in eine romantische Parkinszenierung und die Verbindung von baulichen und vegetativen Elementen sind eher untypisch für die Architekturzeichnungen von Heinrich Christoph Jussow.
Das Blatt zeigt auffällige Übereinstimmungen mit den "Gotischen Ruinen von Herrn Schurichts Zeichnung", die als Teil von Christian Cay Lorenz Hirschfelds "Theorie der Gartenkunst" Verbreitung fanden (Hirschfeld 1779-1785, Bd. IV, S. 127) und z. B. entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung der von Jussow entworfenen Löwenburg im Park Wilhelmshöhe hatten (Buttlar 1989, S. 192). Schurichts Gebäude hat ebenfalls drei gotische Fenster in der Hauptfront und wird gleichfalls von einem turmartigen Aufbau bekrönt. Beiden Darstellungen ist weiterhin gemeinsam, daß sie keine ersichtlichen Zuwegungen haben.
Bei der Jussow zugeschriebenen Zeichnung wird die Erschließung des Gebäudes an der Gartenseite zum einen durch die deutlich sichtbare Substruktion erschwert, die gleichzeitig die typische räumliche Überhöhung des Gebäudes ermöglicht, zum anderen bildet die vor dem Bau plazierte Felsformation ein weiteres Hindernis.
Hirschfeld schreibt dazu (Hirschfeld 1779-1785, Bd. III, S. 115): "Auch kein künstlich zubereiteter, kein geschmückter Zugang zu ihnen. Sie dürfen sich nicht dem Auge entgegen drängen; sie müssen sich gleichsam in ihre eigene Dunkelheit und Trauer zu verbergen scheinen. Nach steilen und verwilderten Wegen, in kleinen felsichten oder bebüschten Einöden unerwartet erblickt, erregen und beschäftigen sie die Phantasie auf eine fühlbare Art." In Hartmanns grundlegender Publikation zu "Ruinen im Landschaftsgarten" wird dieser Gedanke dahingehend interpretiert, daß der "von der ruinösen Architektur veranschaulichten historischen Distanz eine räumliche Distanzierung vom Betrachter hinzuzufügen ist" (Hartmann 1981, S. 203).
Diese Abgeschiedenheit wird innerhalb der Architektur aber umgekehrt. So kann die Loggia des Mittelrisalits bei Jussow als stilistische Übernahme der Belvederes von Renaissancevillen gewertet werden. Sie ermöglichen einen Einblick in die (wilde) Landschaft. Dieser Gedanke wiederholt sich in dem voll ausgebildeten Turmaufbau, der durch die angedeutete Balustrade ebenfalls als Aussichtsplatz gekennzeichnet ist.
Trotz des ruinösen Charakters des Gebäudes waren das Untergeschoß sowie das loggienartige Obergeschoß des Mittelrisalits voll ausgebaut und damit funktionsfähig. Damit wird auf einen wesentlichen, vordergründig widersprüchlichen Charakter anderer ruinöser Parkarchitekturen verwiesen, nämlich die einer direkten Nutzung, wie bei der gotischen Ritterburg in Machern, die "ein Privatmuseum, mehrere Wohnräume und eine Aussichtswarte enthielt" (Buttlar 1989, S. 158).
Im Gegensatz zu anderen durch Hirschfeld angeregten Parkanlagen, erhält dieser Entwurf eine besondere Bedeutung durch die religiöse Symbolik, mit der das Bauwerk ausgestattet ist. Als künstlich geschaffene, mit religiösen Motiven versehene, ruinös angelegte Parkarchitektur, hat lediglich in Machern eine Kirchenruine Einzug in einen Landschaftsgarten gehalten. Die Kirche der Löwenburg hingegen ist Teil einer komplexen neogotischen Gebäudegruppe und ist, als einer der wenigen Teile der Anlage, nicht ruinös. Auch sind die in England in Parkanlagen integrierten Klosterruinen, wie Roche und Tintern, authentische Architekturen, d. h., hier wurde der neu geschaffene Park um eine bestehende, echte Ruine angelegt (Hirschfeld 1779-1785, Bd. III, S. 116f.). Bei dem vorliegenden Entwurf könnte es sich dagegen um eine Art Eremitage handeln.
Die von Vogel gemachte Zuordnung der Zeichnung zu Riede ist durchaus realistisch, allerdings nicht in der Funktion eines zur Ausführung bestimmten Entwurfs. Er hätte von seiner Größe und Ausstattung die Möglichkeiten Heinrich von Meysenbugs erheblich überstiegen. Die in seiner Parkanlage geschaffenen Gebäude waren kleiner und, da häufig aus Holz gebaut, auch weniger massiv.
Wahrscheinlicher ist es, daß es sich hierbei um eine Zeichnung als autonome, künstlerische Studie handelt, bei der die Möglichkeit eines freien Experimentierens mit gotischen Elementen innerhalb einer differenzierten, epochenübergreifenden Gebäudeanlage handelt. Hierin zeigt sich der Gedanke des Historismus, bei dem die Übernahme von stilistischen Elementen früherer Epochen, losgelöst von ihren ursprünglichen Funktionen und Bedeutungen, vorgenommen wird.
Die mögliche Verbindung zu Riede ergibt sich eher über den mit Heinrich von Meysenbug eng befreundeten und lange Zeit in Riede lebenden Zeichner und Architekten Johann Heinrich Müntz, der sich spätestens seit 1759 intensiv mit Gotik und deren Rezeption auseinandersetzte und dabei einen vergleichbar freien Umgang mit Stilelementen und -epochen zeigte. Dazu schreibt Colvin: "[...] For Richard Bateman's 'half Gothick, half Attic, half Chinese and completely fribble house' at OLD WINDSOR, BERKS., he designed in 1761-62 an octogonal Gothic room with a pyramidal roof like a chapterhouse, which still survives although the rest of the house has been rebuilt. For the Earl of charlemont he designed in 1762 an 'Egiptian Room' (really a Gothic room with Egyptian figures, for his house at MARINO, nr. DUBLIN, which does not appear to have been built, but in 1768 want making further designs for Lord Charlemont, which may have been carried out. And at KEW GARDENS he not only designed the 'Gothic Cathedral' in about 1759 [...] Müntz interest in Gothic architecture is shown not only by the measured drawings which he made of doorways in St. Albans Abbey Church in 1759 and 1762, but also by his proposals for publishing by subcription 'A course of Gothic Architecture', of which there is prospectus, dated 12 April 1760, among James Essex's MSS. in the British Museum (Add. MS. 6771, f. 215). This was to have demonstrated 'The Fundamental Principals and Rules for the Disposition, Proportions, Use and Intentions of all the Parts and Members of that Stile of Building ... Exemplified by Designs and Measures, taken from the finest Fabrics and Monuments still existing in ENGLAND and abroad'. Had it been published, it would have been one of the pioneer works on Gothic architecture" (Colvin 1978, S. 566 ).
Vielleicht kann diese Zeichnung als eine Art Reminiszenz an Müntz' Kennerschaft und dessen vielseitige Auseinandersetzung mit Gotik verstanden werden. Zu der Rolle von J. H. Müntz bei den Bauarbeiten zur Wilhelmshöhe s. Dittscheid 1987.

Text übernommen aus Katalog Kassel 1999/CD-Rom [HS]


Literatur:
Katalog Kassel 1958, S. 43, Nr. 114 (mit Abb.); Katalog Kassel 1999/CD-Rom; Katalog Kassel 1999/1, S. 262, Kat.Nr. 112


Letzte Aktualisierung: 09.04.2015



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