1.67.2 Vollendung der Turmfront


Als wichtiges geistliches Zentrum der um 1330 begründeten Kasseler Vorstadt "Freiheit" entwickelte sich die Kirche St. Martin, mit deren Bau unter Landgraf Heinrich II. vor 1364 begonnen worden war. Die dreischiffige Hallenkirche mit geplanter Doppelturmfassade in der Tradition der Marburger Elisabethkirche konnte schon bei Baubeginn als repräsentativster und ambitioniertester Kirchenbau der hessischen Residenzstadt gelten, wenn man auch auf die Ausbildung eines Querhauses verzichtete und der Chor mit 5/8-Schluß für eine Stiftskirche eher kurz ausfiel. Als die hessischen Landgrafen aber 1366 an der Martinskirche ein Kanonikerstift gründeten, dürfte der Chor bereits weitgehend fertiggestellt gewesen sein, da ihn am 23. Mai 1367 der Propst von Fritzlar im Auftrag des Erzbischofs von Mainz weihte.
Die Turmfront war damals noch nicht fertiggestellt, und der weitere Ausbau der Kirche erlebte 1440 einen Rückschlag, als Teile des Kirchendachs einstürzten und auch die Gewölbe des Mittelschiffs durchschlugen. Bis 1452 war das Kirchenschiff im wesentlichen wiederhergestellt, der gesamte Bau wurde vermutlich 1462 (abermals) konsekriert, als von den Türmen erst die beiden Untergeschosse fertiggestellt waren. Das dritte Geschoß des Südturms entstand 1483-1487, die Obergeschosse samt Glockenhaus erst 1564-1565 - und somit erst nach dem Übergang der Landgrafschaft Hessen zur Reformation (1526), die auch für das Martinsstift einschneidende Änderungen brachte. Für die Angehörigen des landgräflichen Hauses entwickelt sich die Martinskirche zur bedeutendsten Grablege (Schneider 1886; Schneider 1893; Illert 1888; Martinskirche 1967; Walter 1994; Becker 1994).
1881 setzten in der Gemeinde Überlegungen zur Vollendung der Turmfront und zu einer Restaurierung des Bauwerks im Sinne einer rekonstruierenden, Stilreinheit anstrebenden Denkmalpflegeauffassung ein. 1883 erteilte das Kirchenbaukomitee Hugo Schneider den Auftrag, Pläne und Kostenanschläge zum Ausbau der Türme zu erstellen (Walter 1994, S. 157). Gegen die ersten Arbeiten Schneiders wandte sich allerdings der Landeskonservator von Dehn-Rotfelser, der bereits mehr als 30 Jahre zuvor Skizzen zur Vollendung der Türme vorgelegt hatte. Im wesentlichen monierte von Dehn-Rotfelser die von Schneider gewählte Gestalt der Glockenhäuser, die neu geschaffen werden mußten, da kein spätgotischer Plan überliefert war. Schneider sah Glockenhäuser auf eher quadratischem Grundriß vor, während sich von Dehn-Rotfelser für einen regelmäßig achteckigen Grundriß aussprach. Da die Konflikte sich in Kassel nicht lösen ließen, wurde die Akademie für Bauwesen in Berlin als Gutachter angerufen. Sie entschied 1885/86 im Grundsatz zugunsten Schneiders, wenn er seinen Entwurf auch im Detail modifizieren mußte. Der überlieferte Planbestand in der Graphischen Sammlung umfaßt aus der ersten inkriminierten Entwurfsserie nur zwei Blätter (L GS 21702 u. L GS 14659); das Gros des Bestands ist der zweiten Entwurfsserie und der 1888 einsetzenden Ausführungsplanung zuzurechnen.
Die Umsetzung der Maßnahmen setzte 1889 ein und zog sich bis 1898 hin. Im Juli 1889 wurde der Nordturm eingerüstet und das alte schadhafte Mauerwerk des Turmstumpfs bis August abgetragen. Die Wendeltreppen im Mauerwerk beider Türme wurden ausgemauert, der Boden des Nordturms erneuert, die Fundamente erweitert und ein neuer Treppenturm unter Verwendung des alten abgetragenen Mauerwerks an der Nordseite des Nordturms errichtet. Bis Oktober 1889 war der Nordturm bis zum vierten Geschoß fertiggestellt. 1890 begann man mit den Arbeiten am Südturm, wobei zunächst bis zum Mai der Renaissanceaufbau und das darunter liegende schadhafte Mauerwerk abgebrochen wurden. Bis Juni 1890 waren beide Türme bis einschließlich des vierten Geschosses errichtet und instandgesetzt, es folgte das Glockenhaus des Nordturms, dann das des Südturms. Am 8. August 1891 fand das Richtfest zur Vollendung der Türme statt. Die wesentlichen Arbeiten am Ausbau der Turmfront, die Restaurierung der Vorhalle und ihrer Fassade, die Anfertigung neuer Buntglasfenster für den Kirchenraum sowie kleinere Umgestaltungen insbesondere an der Südfassade des Kirchenschiffs waren dann bis zum Herbst des Folgejahrs abgeschlossen. Am 16. Oktober 1892 erfolgte die feierliche Wiedereröffnung der Kirche als offizieller Abschluß der Restaurierungsarbeiten, wenn sich auch kleinere Maßnahmen an den Dächern des Langhauses, im Inneren der Türme, an den Grüften der Landgrafenfamilie und an der im Norden angebauten Kapelle noch bis 1898 hinzogen.
Schon bald nach Schneiders Tod wurden dessen neogotische Einbauten entfernt. 1931/32 erfolgte eine Umgestaltung des Kircheninneren und der Vorhalle nach modernen Gesichtspunkten nach Plänen von Oberbaurat Keibel aus den Jahren 1928/29. Am 22. Oktober 1943 fiel die Martinskirche - wie die gesamte Kasseler Altstadt - einem Luftangriff zum Opfer. Erhalten blieben nur die Außenmauern. Die neogotischen Turmabschlüsse Schneiders überstanden den Krieg mit Beschädigungen und sind bis heute in ihren Resten erhalten, wurden aber modern überformt: 1952 legte Baurat Heinrich Vogel aus Trier Pläne zum Wiederaufbau der Martinskirche vor, die u. a. eine Erhöhung der Türme durch Ummantelung der alten Glockenhäuser mit einer modernen Rasterstruktur vorsahen. Bis 1958 erfolgte der modifizierte Wiederaufbau (Dehio Hessen 1982, S. 475).

Stand: September 2007 [LK]




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