2.4 Theater (später Ballhaus)


Wie die landgräflichen Regenten bezog auch Jérôme Bonaparte als Herrscher des Königreichs Westphalen während der Sommermonate das in "Napoleonshöhe" umbenannte Schloß Wilhelmshöhe. Die Planungen für ein in Schloßnähe, im sog. Kastanienwäldchen neben dem Kirchflügel, gelegenes Hoftheater begannen im November 1808. Leo von Klenze, der seit dem 1. Februar 1808 als Hofarchitekt in Kassel beschäftigt war (Buttlar 1999, S. 47), entwickelte mit diesem Bau sein erstes eigenständiges Projekt. Der für den sommerlichen Spielbetrieb ausgelegte Bau sollte anfangs nur der französischen Komödie und der komischen Oper vorbehalten sein (Leo von Klenze, Das Hoftheater von Wilhelmshöhe bey Kaßel, in: Klenzeana II/17, Bayer. Staatsbibl. München, fol. 3r). Hatten erste Planungen Klenzes noch einen nahezu quadratischen Baukörper mit eingezogenen Anbauten vorgesehen, so entwickelte er im folgenden einen längsrechteckigen eingeschossigen Pavillonbau mit einem toskanischen Viersäulenportikus an der Längsseite und einem ädikulagerahmten Portal toskanischer Ordnung an der zum Kirchflügel des Schlosses ausgerichteten südlichen Schmalseite (Holtmeyer 1910, S. 361-363 und Tf. 164.2; Paetow 1929, S. 58f.; Brennecke 1959, S. 56f.; Hederer 1964, S. 183f.; Buttlar 1986; Buttlar/Weber/Schmid 1986; Buttlar 1999, S. 52-55; Katalog München 2000, Kat. Nr. 21). Die langgestreckte Fassade der zum Park ausgerichteten Hauptfront wird durch die horizontalen Gliederungselemente der hohen Sockel- und gleichsam kräftigen Gebälk- und Attikazone geprägt, die das Ergebnis eines schwierigen Planungsprozesses sind. Die Bezugnahme auf die bestehenden Parkbauten sowie „Ökonomische Rücksichten“ (Leo von Klenze, Das Hoftheater von Wilhelmshöhe bey Kaßel, in: Klenzeana II/17, Bayer. Staatsbibl. München, fol. 3r) nötigten Klenze den Entwurf eines eingeschossigen Äußeren mit der Nutzungsanforderung eines aus Rang- und Logensystem bestehenden Inneren in Einklang zu bringen. Diese Diskrepanz löste bereits bei seinen Zeitgenossen Kritik aus.
Die im Innern realisierte Raumfolge aus Königsfoyer, Zuschauerraum und Bühne folgte dem Vorbild des ersten Berliner Schauspielhauses am Gendarmenmarkt (1800-1802) von Carl Gotthard Langhans, den Klenze während seiner Berliner Studienzeit auch persönlich kennengelernt haben könnte (Buttlar 1986, S. 186). Ob mit dem Bau noch 1809 begonnen wurde oder erst im Frühjahr 1810 läßt sich aufgrund fehlender Bauakten nicht mehr endgültig klären (Buttlar 1986, S. 188; Buttlar 2000, S. 77f.; Katalog München 2000, Kat. Nr. 21, S. 218). Allerdings spricht Klenze selbst von nur 8 Monaten Bauzeit, was für den späteren Termin spricht (Leo von Klenze, Das Hoftheater von Wilhelmshöhe bey Kaßel, in: Klenzeana II/17, fol. 5v). Spätestens im Oktober 1810 war das Theater jedoch bespielbar. Noch bevor Klenze das Gebäude fertigstellen konnte, wurde ihm die Bauleitung entzogen und an Heinrich Christoph Jussow übertragen. Das mag einerseits auf eine personelle Veränderung im königlichen Verwaltungsapparat zurückzuführen sein, in deren Folge Klenzes Mentor La Flêche-Keudelstein seinen Posten als Generalintendant des Hofes verloren hatte (Leo von Klenze, Das Hoftheater von Wilhelmshöhe bey Kaßel, in: Klenzeana II/17, Bayer. Staatsbibl. München, fol. 2v), andererseits kann dies auch mit der sich abzeichnenden Überforderung des unerfahrenen Architekten zusammenhängen (Nerdinger 2000, S. 13).
Im Innern machten neue Nutzungsansprüche einschneidende bauliche Maßnahmen erforderlich, um nun auch große Opern und Ballettaufführungen stattfinden zu lassen. Am Außenbau veränderte der inzwischen verantwortliche Architekt Jussow den ursprünglichen Entwurf von Klenze in weitreichender Form, indem er den Portikus "bis zur Weite einer bedeckten Unterfahrt" (Leo von Klenze, Das Hoftheater von Wilhelmshöhe bey Caßel, in: Klenzeana II/17, Bayer. Staatsbibl. München, fol. 6r) vom Gebäude abrückte und zwischen Schloß und Theater eine Verbindungsgalerie im chinoisen Stil errichten ließ (eine Beschreibung des Gebäudes bei Heidelbach 1909, S. 286). Die Umgestaltung des Portikus geschah dabei sehr zum Ärger Klenzes, der die Tiefe der Vorhalle nach den klassischen Proportionen gemäß dem Interkolumnium konstruiert hatte (Buttlar 1986, S. 189; Buttlar 1999, S. 55).
Nach dem Ende des Königreichs Westphalen blieb das als Relikt der Fremdherrschaft zunächst vom Abbruch bedrohte Theater erhalten. Hohe Kosten des Spielbetriebs und ein statisch bedenklicher Zustand von Mauerwerk und Dachkonstruktion begründeten den kompletten Umbau des Gebäudes, das künftig als Ballhaus dienen sollte. In den Jahren 1828 bis 1830 wurde nach Plänen von Johann Conrad Bromeis das Innere entkernt, ein komplett neuer Dachstuhl errichtet, die Fenster vergrößert und in gleichmäßigem Abstand gesetzt sowie der Portikus, allerdings ohne den bekrönenden Giebel, an die noch freie Schmalseite verlegt, so daß sich der Eindruck vom ursprünglichen Klenze-Bau heute nur noch schwerlich einstellen kann (Buttlar 1986, S. 189; Buttlar/Weber/Schmid 1986, S. 9-14; Meyer 1986, S. 192f.; Buttlar 1999, S. 55; Katalog München 2000, Kat. Nr. 21, S. 220; Bidlingmaier 2003, S. 15-34).

Stand: September 2004, korrigiert September 2007 [MH]




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