3.130.2 Schloß und Nebengebäude


Die Planung einer im Gegensatz zum Residenzschloß eher 'privaten' modernen Schloßanlage außerhalb Kassels durch Prinz Wilhelm, den späteren Landgrafen von Hessen-Kassel, geht bereits in die 30er Jahre des 18. Jahrhunderts zurück. Erste skizzenhafte Entwürfe aus dem Jahr 1730 befinden sich in einem handgeschriebenen Kollegbuch Pieter Jacobsz. Romans ("Cours D'architecture Enseignée au Louvre dans L'academie Royalle Par M. de la Hire Professeur en Mathematique a Parise"; mhk, Graphische Sammlung, Codex 47), der als Baumeister zeitweise in der hessischen Landgrafschaft tätig war (Hallo 1930/2, S. 64-66). Die Möglichkeit zur Umsetzung derartiger Pläne boten sich aber erst 1743, als das nordwestlich von Kassel gelegene Schloß und Gut Amelienthal in den Besitz Wilhelms übergingen.
Gemäß dem Zeitgeschmack erfolgte die Gestaltung des Schlosses im französisch-spätbarocken Stil einer "maison de plaisance", einer Baugattung, die ab der Mitte des 17. Jahrhunderts Eingang in die deutschsprachige Architekturtheorie gefunden hatte. Dabei kommt architekturtheoretischen Musterbüchern französischer Prägung und Kompendien von Stichfolgen tatsächlich errichteter Bauwerke bei der Übermittlung des Gedankengutes eine große Bedeutung zu. Insbesondere das Werk des französischen Architekturtheoretikers Jacques-François Blondel, dessen Arbeit "De la Distribution des Maisons de Plaisance" (Blondel 1737-1738) weite Verbreitung fand, stand Pate für eine Reihe von realisierten Architekturen (Frank 1989, S. 104-107). Auch beim Schloßbau von Wilhelmsthal wurde besonders bei der Raumdisposition darauf Bezug genommen, indem durch die Ausbildung eines hofseitigen Vestibüls und eines parkseitigen Saals mit flankierenden "appartements doubles" und parkseitiger Enfilade ein Mustergrundriß verwendet wurde. Entgegen den Vorgaben der französischen Architekturtheorie, die eine Transparenz zwischen Hof und Park forderte, schließen die Nebengebäude allerdings direkt an den Mittelbau an, so daß in Wilhelmsthal eine dem Pariser Hôtelbautyp ähnliche Wirkung der Gesamtanlage erzielt wurde (Frank 1989, S. 196).
Als ausführenden Architekten für den Schloßbau und eine diesen umgebende Gartenanlage konnte Wilhelm dank seiner persönlichen Beziehung zu Kurfürst Clemens August von Köln den in München als Hofbaumeister tätigen François de Cuvilliés gewinnen. Zwischen 1743 und 1745 entstand ein Vorentwurf von Cuvilliés zu einer ziemlich umfangreichen, aber sehr schematischen Gartengestaltung mit Wasserspielen und einem Belvedere-Lusthäuschen als Mittelpunkt. Der Originalentwurf ist zwar nicht erhalten, in Cuvilliés' Stichwerk (2. Folge der 3. Serie, Buchstabe D, Paris 1745/55) hat jedoch ein Entwurf Aufnahme gefunden, der sich der Beschriftung zufolge auf Amelienthal bezieht (zuerst Hallo 1930/2, S. 75, Abb. 25). In Unkenntnis des Geländes entwickelte Cuvilliés hier ein Schloß- und Gartenkonzept, das sich, weil ebenes Gelände voraussetzend, als ungeeignet erwies. Einem Eintrag im Nachlaßinventar Wilhelms zufolge legte Cuvilliés 1745 Pläne und Aufrisse für den als ersten Teil des Schlosses ausgeführten Kirchflügel (nördlicher Flügel) vor ("Plans et Elevations pour L'aile des Cuisines à Amelienthal par Cuvilliés 1745", StAM Best. 4a, 80, 15; Litt. Ll., AC, zit. nach Schmidt-Möbus 1995, S. 143, Anm. 395). In wesentlichen Teilen muß das neue Konzept zu diesem Zeitpunkt schon festgestanden haben. Ab Mai 1746 wurde mit dem Bau des nördlichen Seitenflügels begonnen, wobei der alte Landsitz Amelienthal zunächst noch erhalten blieb. Spätestens 1749 war der Rohbau fertiggestellt. Ab 1748 wurde der zweite, südliche Seitenflügel errichtet (Schmidt-Möbus 1995, S. 151f.). Erst bei Baubeginn des Corps de Logis im Jahr 1753 erhielt die Anlage dann auch den Namen ihres Erbauers - Wilhelmsthal. Die Vollendung der Arbeiten sollte Wilhelm VIII. nicht mehr erleben. Bis zu seinem Tod im Jahr 1760 konnte nur das Erdgeschoß des Mittelbaus vollendet werden.
Cuvilliés selbst hatte den Quellen zufolge nur dreimal direkten Kontakt mit Bau und Bauleitung. Johann Georg Fünck informierte sich zu Beginn seiner Tätigkeit im Jahr 1746 bei dem Münchener Architekten über die Umsetzung der Entwürfe des Münchener Baumeisters. Möglicherweise ging es bei diesem Gespräch um den Ausbau der südlichen Gartenachse und des ersten Seitenflügels. Im Frühsommer 1749 war Cuvilliés selbst für sieben Wochen in Kassel, sein Augenmerk galt hier aber dem Bau der Gemäldegalerie und der Planung eines Komödienhauses. Schließlich suchte der inzwischen mit der Bauleitung beauftragte Heinrich Wilhelm Huth den Baumeister vor der Grundsteinlegung des Corps de Logis in München auf. Gestaltung und Ausstattung der Räume blieben hingegen von Cuvilliés' Wirken unbeeinflußt.
Ein Konvolut von 12 Zeichnungen zu Wilhelmsthal mit Aufrissen, Schnitten und Grundrissen hinterließ der Kasseler Architekt Simon Louis Du Ry. Die Zuschreibung warf dabei nicht die Probleme auf, mit denen sich der Forscher bei anderen Wilhelmsthal-Zeichnungen noch immer konfrontiert sieht. Ein reger Briefwechsel mit Schwester und Vater, in dem eine Anzahl der zeichnerischen Arbeiten benannt sind, erleichterte den Umgang mit diesem Bestand (der Briefwechsel befindet sich in der Graphischen Sammlung der Museumslandschaft Hessen Kassel). Schwieriger war aufgrund einer teilweise undurchsichtigen Planungs- und Baugeschichte von Wilhelmsthal die Bewertung des Anteils von Simon Louis bei der Umsetzung verschiedener Entwurfsfolgen (Phleps 1908; Bleibaum 1926). Rudolf Hallo kommt das Verdienst zu, seine Funktion richtig bewertet und ihn auf die Rolle eines Nebenakteurs zurückgestuft zu haben (Hallo 1930/2). Demgegenüber konnte er François de Cuvilliés als entwerfenden Baumeister herausstellen (eine Zusammenfassung der Forschungsdiskussion bei Schmidt-Möbus 1995, S. 46-72). Die Cuvilliés-Forschung folgte dieser Ansicht und auch die jüngste Arbeit über den Gesamtkomplex Wilhelmsthal, vorgelegt von Friederike Schmidt-Möbus, blieb bei dieser Bewertung (Braunfels 1938; Wolf 1967, S. 60-64; Braunfels 1986; Schmidt-Möbus 1995, S. 151-155).
Die Zeichnungen von Simon Louis Du Ry sind die Arbeiten eines zwanzigjährigen Baueleven, der sich beim Bau des Schlosses noch in der Ausbildung befand. Nach Studienaufenthalten in Schweden, Frankreich und Italien kehrte er erst 1756 nach Kassel zurück, zu einer Zeit, als die Schloßanlage von Landgraf Wilhelm VIII. bereits seit fünf Jahren genutzt wurde. Erst in diesem Jahr erhielt Simon Louis als Bauleiter eine konkrete Funktion innerhalb des Wilhelmsthaler Baugeschehens.
Neben dem großen Gartenplan (Marb. Dep. 26) entstanden als Studienarbeiten zwei Entwurfsfolgen, die Grund-, Aufrisse und Schnitte des Corps de Logis, der Seitenflügel und der Galeriebauten zeigen. Eine erste Entwurfsserie, die sich wohl auf die Cuvilliés-Pläne bezog, erarbeitete Simon Louis Du Ry 1746 (Bleibaum 1932, S. 41). Die zweite Entwurfsfolge, die als Ergebnis eines längeren Studiums beurteilt werden kann, wurde von Rudolf Hallo 1930 erstmals publiziert. Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt sie als verschollen. Die erste Entwurfsfolge (Marb. Dep. 22, Marb. Dep. 27 - Marb. Dep. 34) ist als Dauerleihgabe des Preußischen Hochbauamtes II in Kassel an das Landesamt für Denkmalpflege Hessen abgegeben worden und befindet sich seit 1980 als Depositum in der Graphischen Sammlung der Museumslandschaft Hessen Kassel.

Stand: September 2004 [MH]




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