4.8.3 St. Godehard


Mit der Errichtung eines neuen Kirchenbaus in dem zur Grafschaft Schaumburg gehörigen Bad Nenndorf ist eine äußerst komplizierte Planungsgeschichte verbunden. Neben dem Problem der Finanzierung verschleppte die Einflußnahme der verschiedenen, an der Entscheidungsfindung beteiligten Organe in Gestalt von Kirchengemeinde, Konsistorium, Kurfürstlichem Ministerium des Innern, Kurfürstlicher Oberbaudirektion und schließlich der Person des Kurfürsten, Friedrich Wilhelm I., den Baubeginn.
Die Planungsgeschichte beginnt Mitte der 1830er Jahre mit dem Bericht des Landbaumeisters in Rodenberg, Johann Lichtenberg, über die Baufälligkeit der vermutlich in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts erbauten und in den folgenden Jahrhunderten vergrößerten Kirche (NStA Büren, Akte H2, VII a 12, Nr. 5; zit. nach Lohr 1984, S. 104; Siebern/Brunner 1907, S. 77). Aus dem Jahr 1839 stammen die ersten Planzeichnungen, die der Oberbaudirektor Johann Conrad Bromeis eigenhändig ausführte. Die als "Project zu einer Kirche für die Gemeinde Gross-Nendorf." betitelten Blätter (Marb. Dep. 247a - Marb. Dep. 247c) zeigen zwei Grundrisse, eine Ansicht der Nordseite, einen Längsschnitt, eine Ost- sowie eine Westansicht und einen Querschnitt. Parallel wurde Lichtenberg von der Kirchengemeinde aufgefordert, ebenfalls einen Neubau zu entwerfen (StAM Best. 16, Nr. 11040, 15.05.1841). Dabei richtete sich die Planung nur auf das Kirchenschiff, der Kirchturm sollte wegen seiner soliden Bausubstanz erhalten bleiben. Offensichtlich stießen zwei Entwürfe auf Ablehnung, denn der erste erhaltene Entwurf aus dem Jahr 1840 (Marb. Dep. 247d u. Marb. Dep. 247e) ist dem Titel zufolge bereits Lichtenbergs dritter Projektvorschlag. Drei weitere folgten in den Jahren 1841, 1842 und 1844. Insbesondere die Turmgestaltung stieß auf Vorbehalte, so daß nach dem Eingang des vierten Projektentwurfs von Lichtenberg im September 1841 das Kurfürstliche Ministerium des Innern beschloß, dezidiert für diesen Bauteil weitere Vorschläge einzuholen. Dabei fiel die Zielsetzung reichlich unkonkret aus: eine "gefälligere" Turmform (StAM Best. 16, Nr. 11040, 29.01.1842) sei auszuarbeiten. Am 25. Februar 1842 reichte die Oberbaudirektion zunächst eine Mappe mit "drei Blättern enthaltenen weiteren Zeichnungen zu einem anderen Thurm der Kirche zu Nenndorf nebst sämmtlichen Rissen und Kostenanschlägen" (StAM Best. 16, Nr. 11040, 25.02.1842) ein. Bereits einen Monat später folgten drei weitere Blätter (StAM Best. 16, Nr. 11040, 15.03.1842) und schließlich im April nochmals drei Blätter mit fünf verschiedenen Vorschlägen (StAM Best. 16, Nr. 11040, 01.04.1842). Zu diesen Vorschlägen für die Turmgestaltung gehören vermutlich die unsignierten und undatierten Zeichnungen GS 14871 und GS 14872 sowie Marb. Dep. 247i - Marb. Dep. 247o. Alle diese Entwürfe gingen von der Prämisse aus, das alte Turmmauerwerk - von gestalterischen Veränderungen (neues Portal, Verkleidung der Turmecken) abgesehen - zu erhalten. Die Freigeschosse sollten neu errichtet werden.
Am 26. Mai 1842 entschied sich das Ministerium für den im spätromanisch-frühgotischen Stil ausgeführten Entwurf des Hofbaudirektors Julius Eugen Ruhl (GS 18378) (StAM Best. 16, Nr. 11040, 26.05.1842). Ruhl hatte entsprechend der ministeriellen Forderung eine reich dekorierte Turmfassade ausgearbeitet und zur Kostenreduzierung schlichte Seitenfassaden vorgesehen. Lichtenberg, der die Bauausführung übernehmen sollte, lobte zwar den im "deutsch-lombardischen Spitzenbogenstyl" gehaltenen Entwurf, der sein "einfaches Project gewiß in jeder Hinsicht an Schönheit und Vollkommenheit" übertreffe (StAM Best. 16, Nr. 11040, 13.10.1842), kritisierte gleichzeitig jedoch die hohe Bausumme. Von den veranschlagten 10800 Reichstalern waren 6000 nicht gedeckt. Diese Summe würde sich zudem noch erhöhen, wenn ein dem Außenbau konformer Innenraum mit einer Pfeiler- und Gewölbekonstruktion aus Haustein ausgeführt würde. Zur Minimierung der Kosten schlug er statt der Verwendung von Quadern, die eine kostenintensive Steinbearbeitung durch Steinmetze notwendig machen würden, Back- (bzw. Ziegel-)steine vor. Erhebliche Mehrkosten entständen nach seiner Einschätzung zudem durch die nach wie vor geplante Erhaltung des Turmes. Die im neuen Entwurf vorgesehenen Fensteröffnungen erforderten Stützmaßnahmen des alten Turmmauerwerks. Mit großen Schwierigkeiten sei weiterhin bei der Bearbeitung der windschiefen Fläche der Turmwestseite zu rechnen. Selbst wenn diese Probleme nicht beständen, sei die reiche dekorative Ausgestaltung völlig unnütz, da durch die enge Bebauung der Blick auf die Westfassade eingeschränkt sei. Außerdem stehe die reiche Ausgestaltung der Turmseite in Diskrepanz zur schlichten straßenseitigen Fassade. Er schlug deshalb einen kompletten Neubau vor, der dann auch räumlich versetzt erfolgen könnte (StAM Best. 16, Nr. 11040, 24.08.1843).
Offensichtlich konnte man im Kurfürstlichen Ministerium dieser Argumentation folgen und bat Lichtenberg, einen weiteren, reduzierten Entwurf vorzulegen. Dieser sollte im Spitzbogenstil ausgeführt sein und auf alle nicht notwendigen Verzierungen, insbesondere der Turmspitze, verzichten. Der sechste Projektentwurf Lichtenbergs vom Februar 1844 zeigt einen neuen Turm mit einem einfachen Untergeschoß, dem ein im Spitzbogenstil verziertes Obergeschoß aufsitzt (StAM 300 P II 244/4). Entsprechend einer weiteren ministeriellen Forderung war das Kircheninnere ebenfalls im neogotischen Stil gehalten. Und auch der Chorabschluß in Apsidenform geht auf eine Vorgabe zurück (StAM Best. 16, Nr. 11040, 04.02.1844). Gerade diesen Wunsch des Ministeriums unterstützte die Oberbaudirektion nicht (StAM Best. 16, Nr. 11040, 20.02.1844). Die im Auftrag dieser Institution entstandenen neuen Entwürfe (StAM 300 P II 244/1-3) zeigen daher auch einen geraden Chorschluß.
Erschwerend auf den Planungsfortgang wirkte sich die Intervention des Kurfürsten Friedrich Wilhelm aus, der im März 1844 ein Gutachten des Hofbaudirektors Julius Eugen Ruhl in Auftrag gab, das eine Klärung der Standortfrage herbeiführen sollte (StAM Best. 16, Nr. 11040, 01.03.1844 u. 08.07.1844). Damit begann eine intensive Debatte um den richtigen Standort. Neben dem alten Standort und dem von Friedrich Wilhelm bevorzugten Platz an der Straße von Rodenberg nach Nenndorf zwischen den beiden Logiergebäuden kam nach Ansicht von Ruhl ein Platz "am Ausgang von Nenndorf an der Straße nach Hannover" ebenso in Frage wie ein Platz im Dorf "rechts an der Chaussee von Nenndorf nach Hannover". Die angedachte Verlegung des Kirchengebäudes stieß jedoch auf Widerstand, zum einen bei der Brunnendirektion, die eine Störung der Kurgäste befürchtete, zum anderen bei der Kirchengemeinde, die sich gegen die Entfernung der Kirche vom Dorfmittelpunkt aussprach. Letztendlich gab die Finanzierung den Ausschlag. Die Kirchengemeinde erklärte sich bereit, einen größeren Anteil der Kosten zu übernehmen, wenn der Bau zusammen mit einem neuen Turm am alten Standort erfolgen würde. Am 9. Oktober 1847 genehmigte das Ministerium des Innern den Abbruch der alten Kirche, und ein Jahr später, am 13. März 1848, wurde die Baugenehmigung erteilt (Lohr 1984, S. 104). Der Baubeginn sollte sich dann jedoch noch bis zum März 1849 hinziehen. Als Bauplatz wurde der höher gelegene Kirchhof bestimmt.
Zur Ausführung kam eine dreischiffige Emporenkirche mit quadratischem Westturm und eingezogenem Chorpolygon, die Elemente der Entwürfe von Lichtenberg und Ruhl in sich vereint. Rundbogenfenster und -portale akzentuieren die durch Strebepfeiler gegliederten Langhausseiten, wobei die Strebepfeiler des äußeren Langhausjochs und die Eckstrebepfeiler des Westturms von kleinen Pyramiden bekrönt sind. Zierelemente finden sich in Form eines Rundbogenfrieses als oberer Abschluß der Seitenfassaden und des östlichen Giebels sowie einer Blendarkade an den Eckstrebepfeilern des Turmes und eines breiten Würfelfrieses in den dazwischenliegenden Fassadenabschnitten. Den Turm überhöht ein steiler, zum Achteck eingezogener Helm.
Das dreischiffige Kircheninnere wird im Bereich des Mittelschiffs von einer Holztonne überdeckt. Der Chor ist als Halbkreisapsis gestaltet und wurde bis zur Kirchenrenovierung im Jahr 1953 aus Anlaß der 100-Jahr-Feier der Kirche (Weihetag war der 14.08.1853) von einer Altar-Kanzel-Wand vom übrigen Kirchenraum abgetrennt. Seitdem befindet sich die Altarmensa vorgerückt im erhöht gelegenen Chorbereich. Im Zuge dieser Maßnahme wurde die hölzerne Chorschranke mit den bekrönenden Engelsfiguren entfernt. Die historische Kirchenausmalung mußte einem einheitlichen Anstrich in Grau- und Weißtönen weichen. Die letzte umfangreiche Außen- und Innenrenovierung, durch die der Kirchenraum einen neuerlichen Anstrich in Weiß- und Gelbtönen erhielt, fand in den Jahren 1973/74 statt (Jacobs 2004, S. 6f.).
Aus dem Landesamt für Denkmalpflege Hessen, Außenstelle Marburg, sind 15 Zeichnungen zum Neubau der Bad Nenndorfer Kirche als Depositum in den Bestand der Graphischen Sammlung gelangt. Darunter befindet sich die frühe Entwurfsserie von Johann Conrad Bromeis aus dem Jahr 1839 (Marb. Dep. 247a - Marb. Dep. 247c) sowie drei Projektentwürfe von Johann Lichtenberg aus den Jahren 1840 bis 1842 (Marb. Dep. 247d - Marb. Dep. 247h). Einzelne Blätter betreffen die Gestaltung des Turmes (Marb. Dep. 247i - Marb. Dep. 247o). Sie stammen vermutlich von verschiedenen Zeichnern der Oberbaudirektion. Der sechste Projektentwurf Lichtenbergs vom Februar 1844 (StAM 300 P II 244/4) ebenso wie Ruhls Entwurfsserie vom Juni 1844 gehören zum Bestand des Hessischen Staatsarchivs Marburg (StAM 300 P II 242,1-5). Drei weitere 1844 entstandene Entwürfe (StAM 300 P II 244,1-3) sind dort ebenfalls vorhanden. Diese von C. Rothamel, F. Hoffmann und Conrad Wolff angefertigten Entwürfe sind ebenso wie die Gestaltungsentwürfe zum Turm wohl von der Oberbaudirektion in Auftrag gegeben worden.

Stand: Mai 2005 [MH]




© Hessen Kassel Heritage 2024
Datenschutzhinweis | Impressum