4.12.1 Residenzschloß: Möbel


Die zwischen 1718 und 1790 errichtete Residenz der Welfen, der sog. Graue Hof, benannt nach der vormaligen Stadtniederlassung der Zisterziensermönche des stadtnah gelegenen Klosterguts Riddagshausen an diesem Ort, wurde 1830 durch einen Brand teilweise zerstört. Statt einer Rekonstruktion der betroffenen Gebäudeteile, insbesondere des Nordflügels, wurde im Herbst 1831 mit einem Neubau begonnen. Nach dem Entwurf des Hofbaumeisters und Schinkelschülers Carl Theodor Ottmer entstand eine spätklassizistische Dreiflügelanlage mit stadtseitigem Ehrenhof, der von viertelkreisbogigen Säulengängen mit tempelartigen Eckpavillons umschlossen wurde. Nachdem der Rohbau 1837 vollendet werden konnte, erfolgte bis 1841 der Innenausbau im Stil des Empire und des Spätklassizismus. Im Jahr 1865 kam es zu einer erneuten Brandkatastrophe, die dem Gebäude schwere Schäden zufügte. Bis 1868 wurde das Schloß rekonstruiert und im alten Stil nach den Plänen des Baukondukteurs Constantin Uhde neu eingerichtet (Wedemeyer 1998, S. 533; Wedemeyer 2000, S. 141ff.). Noch bis 1918 war das Schloß der Sitz des Hauses Braunschweig-Lüneburg. Museen, Institute der Technischen Hochschule Braunschweig sowie Behörden nutzten den Bau in der Folgezeit. 1935 begann ein schwarzes Kapitel der Nutzungsgeschichte mit dem Einzug der nationalsozialistischen SS-Junkerschule. Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, wurde nach Kriegsende eine heftige Debatte um das Schloß geführt. Als "Symbol monarchistischer Herrschaft und der verbrecherischen NS-Diktatur" wurde es trotz heftiger Proteste im Jahr 1960 schließlich abgerissen. Inzwischen ist der Bau in seinen Umrissen mit einer rekonstruierten Fassade wiedererrichtet worden. Das Innere ist ganz auf die neue Nutzung als Kaufhaus hin ausgerichtet.
Die Ausstattungstücke waren bereits 1919 an verschiedene museale Institutionen des Landes und der Stadt abgegeben bzw. dem vormals regierenden Herzoghaus der Welfen ausgehändigt worden. Die erhaltenen Stücke befinden sich heute im Braunschweigischen Landesmuseum und im Städtischen Museum oder dienen der Ausstattung verschiedener historischer Gebäude (wie des Celler Schlosses und bis vor einigen Jahren des Schlosses Richmond). Die Zuordnung der verstreuten Stücke ist trotz mehrerer Inventare nur in Einzelfällen möglich, da sich die dortigen Angaben zumeist auf die Objektbestimmung und die Materialangabe beschränken. Nur noch 171 gestempelte Objekte sind durch die Inventare von 1911, 1917 und 1922 dem Schloß mit absoluter Sicherheit zuzuordnen, ein verschwingend geringer Teil angesichts von ca. 4.870 Stücken der letzten Inventarisierung in herzoglicher Zeit im Jahr 1917 (Wedemeyer 1998, S. 533, Wedemeyer/Willemsen 2000, S. 196ff.). Von der Schloßausstattung der Jahre 1830-1840 waren der Inventarisierung der Restbestände in den Jahren zwischen 1994 und 1996 zufolge nur noch 77 Stücke erhalten, wobei ihr ehemaliger Standort nicht immer ermittelt werden konnte.
Vor diesem Hintergrund muß dem vorliegenden Skizzenheft ein hoher historischer Wert beigemessen werden, da nun Informationen über 13 Möbel vorliegen, von denen bisher nur ein Objekt dem Schloß zugerechnet worden ist. Neben der Form der Stücke sind durch die Beschriftung auch das Material und der Standort im Schloß nachweisbar.
Die in Graphit angelegten Zeichnungen sind eine illustrierende Zugabe eines als "Das neue Schloß in Braunschweig" betitelten Textes aus dem Jahr 1840, der eine Beschreibung des Außenbaus und - dies ist von besonderem Interesse - verschiedener Innenräume liefert. Verfasser und Zeichner ist Georg Jatho, der ab 1830 im Kasseler Hofbauamt tätig war und ab 1838 als Hofbauinspektor seinen Dienst verrichtete. Ende Juli 1840 bestimmte Kurfürst Wilhelm II., "daß der Hofbau-Inspector Jatho nach Braunschweig reisen und das dortige Schloß zu besehen und in möglichst kurzer Zeit zurückzugegeben, wozu Unser Oberhofmarschall-Amt demselben die nöthige Weisung zu ertheilen hat" (StAM Best. 300 Haus Hessen Abt. 11 Geh. Kab. Nr. F 5, Nr. 5, 31.7.1840). Im Zuge dieser Reise sind die Zeichnungen angefertigt worden. Woher der Impuls für die Reise kam, ist indes ungeklärt. Möglicherweise ist sie auf ein Gesuch von Jatho selbst zurückzuführen, dessen Interesse für die neu errichteten Bauten dokumentiert ist. Im Jahr 1844 reichte Jatho ein Urlaubsgesuch ein "behufs Besichtigung neuerer Bauwerke in den Städten Hannover, Braunschweig, Berlin, Dresden und Leipzig" (StAM Best. 300 Haus Hessen Abt. 11 Geh. Kab. Nr. F 5, Nr. 5, 29.6.1844). Möglich ist jedoch auch, daß Jatho mit dem Auftrag nach Braunschweig geschickt worden ist, Erkundigungen über das jüngst vollendete Residenzprojekt einzuholen.
Die zumeist im Stil des Spätempire ausgeführten Entwürfe können, da sie einen deutlichen Bezug auf den von Schinkel entwickelten Formenkanon nehmen, dem Ottmer-Umkreis zugeschrieben werden.
Bei den Braunschweiger Möbeln kann eine gewisse Formredundanz konstatiert werden, die wohl einerseits auf die kurze Zeitspanne zurückzuführen ist, in der die Ausstattungsstücke nach der Zerstörung der alten Residenz realisiert werden mußten, andererseits aber auch auf den Wunsch des Herzogs nach Kostenreduzierung. So wurde für die Anfertigung der Sofas im Braunschweiger Schloß auf die Form der Polstersofas zurückgegriffen, die Schinkel für verschiedene Räume fürstlich-preußischer Gebäude entworfen hatte; diese wurden den Erfordernissen entsprechend variiert.

Stand: August 2007 [MH]




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