10.10.1 Prag


In der Graphischen Sammlung befinden sich zehn Zeichnungen, die mit dem Exilaufenthalt Kurfürst Wilhelms I. von Hessen in Zusammenhang stehen.
Das Konvolut von sechs Blättern mit Grundrissen eines Stadtpalais (GS 15685, GS 15693 - GS 15697) konnte lange Zeit nicht zugeordnet werden. Durch die Größe des zwei Innenhöfe umschließenden Baukomplexes wie auch die Maßangabe "Klafter" kam Kassel als möglicher Standort nicht in Frage. Das Gebäude ist nunmehr als das Palais Kurland bzw. Rohan (Rohanský palác) in Prag identifiziert worden, das Kurfürst Wilhelm I. während seines Exils in dieser Stadt 1811 ankaufte und bis 1813 bewohnte (Hessen 1996, S. 392; Losch 1923, S. 295; zu dem Haus vgl. Rokyta 1995 und besonders Vl?ka 1999, S. 487-490, dort auch der aktuelle Erdgeschoßgrundriß). Das Palais entstand 1794 bis 1796 unter der Leitung des Prager Architekten Joseph Zobel unter Einbeziehung älterer Teile. Bereits 1807 kam es nach einem Besitzerwechsel erneut zu größeren Bauarbeiten, mit denen der in Wien tätige Architekt Louis Montoyer beauftragt war. Als Resultat fand der exilierte Kurfürst 1811 "das schönste Haus in Prag, mit vier großen Sälen und vierundsechzig heizbaren Zimmern" vor (Hessen 1996, S. 392).
Aus den unterschiedlichen Farben (Rosa und Gelb) des Mauerwerks geht hervor, daß die Blätter anläßlich eines größeren Um- und Erweiterungsvorhabens entstanden sein müssen. Da der Kurfürst lediglich "Reparaturen und Möbel in meiner neuen Behausung" (Hessen 1996, S. 396) erwähnt, nicht aber umfangreiche Bauarbeiten, und da die Veränderungen die Teile betreffen, die von Montoyer 1807 ausgeführt wurden (Vestibül, Treppenhaus, Tanzsaal, Boudoir; vgl. Vl?ka 1999, S. 488), kann die Planserie diesem bzw. seinem Büro zugeschrieben werden. Die Blätter dürften dann beim Verkauf des Hauses in den Besitz des Kurfürsten und bei dessen Rückkehr 1813 nach Kassel gelangt sein.
Jedem der drei Geschosse sind jeweils zwei Blätter gewidmet: eines zeigt stets den Gesamtgrundriß, das andere Varianten dazu für den rückwärtigen Bereich. Dabei fällt auf, daß bei den Varianten bereits Bauteile als Bestand angegeben sind, die auf dem anderen Blatt noch als - gelb lavierte - Entwürfe markiert sind. Als größere Neubauteile sind ein mittlerer Trakt sowie im Anschluß an das bestehende Rückgebäude eine dreiachsige Pfeilerhalle mit zwei großen Sälen in den Obergeschossen zu erkennen. Durch den freistehenden mittleren Bau, der ein Vestibül im Erdgeschoß und ein seitlich angeordnetes Treppenhaus enthält, werden zwei voneinander getrennte Höfe geschaffen. Der vordere davon erhält durch fast gleiche Seitenlängen der Fassaden sowie zwei in den Ecken konvex vorspringende Teile eine regelmäßige und repräsentative Form. Der Vergleich mit dem Bestand zeigt, daß hier die aufwendigere Variante mit dem säulenbestückten Vestibül (GS 15696) zur Ausführung kam.
Zur detaillierten Erklärung des geplanten Bauvorhabens finden sich in der Zeichnung zwei Zahlensysteme, deren Legenden allerdings nicht mehr vorhanden sind. Alle Räume, die von baulichen Veränderungen betroffen wären, weisen Zahlen in schwarzer Tinte auf, sämtliche neuen Bauteile solche in roter Tinte. In jedem Geschoß beginnt die Zählung jeweils neu mit einer in beiden Farben hervorgehobenen "No 1".
Trotz der zeichnerischen Qualität ist die Arbeit an den Blättern nicht abgeschlossen worden; sie sind nicht beschnitten, so daß mehrfach Feder- und Farbproben an den Rändern zu sehen sind. Weiterhin fehlen eine angemessene Rahmung, Titel oder sonstige Bezeichnungen.
Die beiden Zeichnungen GS 15755 und GS 15756 sind Alternativprojekte für das Torgebäude einer Gartenanlage, von der zwei Pläne des Hofgärtners Franz Weppel in der Graphischen Sammlung verwahrt werden (GS 14540 u. GS 14541). Dort ist der Baubestand als Umrißdarstellung in seinem ganzen Umfang vor den projektierten Veränderungen zu erkennen. Die beiden Umbauvorschläge sind mit "J Zobel / Hofbaumeister" signiert. Die Entwürfe scheinen jedoch nicht von diesem selbst, sondern von zwei verschiedenen Mitarbeitern angefertigt worden zu sein. Dafür sprechen der unterschiedliche Duktus von Darstellung und Handschrift, die leichten Farbabweichungen der Lavierung sowie die unterschiedlichen Rahmenlinien der Blätter. Möglicherweise entstanden die Entwürfe im Zusammenhang mit Baumaßnahmen im Jahr 1811, die Wilhelm I. vornehmen ließ, um mehr Platz für sich und seine Mätresse, die Gräfin Hessenstein, für die häufigen längeren Sommeraufenthalte in seinem Garten zu schaffen (Hessen 1996, S. 393).
Die aus den Plänen ablesbare Bauaufgabe bestand darin, die eingeschossigen Seitenteile des zweigeschossigen Torbaus mit breiter Mitteldurchfahrt aufzustocken, um zusätzliche Wohnräume schaffen zu können. Die Mauern des Baubestands sind rosa, die Planungen gelb laviert. Vor allem letztere weisen Zahlen auf, die wohl in einer ergänzenden Legende erklärt waren, so daß die einzelnen Baumaßnahmen genau nachvollzogen werden konnten.

Stand: September 2004, überarbeitet Mai 2005 [GF]




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