1.67.2.2 - Kassel, Martinskirche, Entwurf zur Westfassade, Aufriß



1.67.2.2 - Kassel, Martinskirche, Entwurf zur Westfassade, Aufriß


Inventar Nr.: L GS 14659
Bezeichnung: Kassel, Martinskirche, Entwurf zur Westfassade, Aufriß
Künstler: Hugo Schneider (1841 - 1925), Architekt/-in
Datierung: 1886
Geogr. Bezug: Kassel
Technik: Graphit, Feder in Schwarz, graublau laviert
Träger: Papier
Wasserzeichen: -
Maße: 90,1 x 66 cm (Blattmaß)
Maßstab: -
Beschriftungen: oben links: "ST. MARTINS- KIRCHE / ZU CASSEL / AUFBAU DER THÜRME. / ZWEITER ENTWURF." (Feder in Schwarz)
unten rechts: "CASSEL 1886 / H. SCHNEIDER." (Feder in Schwarz)


Katalogtext:
Dieser Aufriß der geplanten Westfassade der Martinskirche von 1886 gehört zu den frühesten erhaltenen Blättern Schneiders für diese Bauaufgabe, mit der er sich seit 1882 auseinandersetzte. Die Bemerkung "zweiter Entwurf" setzt die Existenz eines ersten voraus, der sich im Nachlaß in der Graphischen Sammlung ebenfalls niedergeschlagen hat (vgl. L GS 21702 u. L GS 14630). Schneider beabsichtigte demnach zunächst, die im vorhandenen Südturm vorherrschende Linienführung im weiteren Ausbau weiterzuführen, ihn mit einem Aufbau auf quadratischer Grundfläche mit schlanker achteckiger Helmspitze zu versehen und den Nordturm in identischer Form zu errichten. Damit geriet er in Konflikt mit dem Landeskonservator von Dehn-Rotfelser, der die neuen Glockenhäuser - wie dasjenige des Südturms aus der Renaissance - auf achteckigem Grundriß errichtet sehen wollte. Die Bauakademie in Berlin erstellte ein Gutachten in Schneiders Sinne, verlangte aber eine Überarbeitung des Ursprungsentwurfs unter Aufnahme einiger Gedanken Dehn-Rotfelsers. Das Ergebnis ist dieser "zweite Entwurf".
Der Entwurf integriert in Teilen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Baubestand. Bis 1565 waren neben dem Kirchenschiff und der Westvorhalle die beiden unteren Geschosse des Nordturms und der Südturm einschließlich eines Glockenhauses in Renaissanceformen fertiggestellt. Schneider sah vor, dieses Glockenhaus abzubrechen und somit den Südturm auf den Turmstumpf zurückzuführen, den Nordturm analog dazu aufzuführen, ohne die Unregelmäßigkeiten im Bestand der Untergeschosse zu beseitigen, und neue, zweigeschossige Glockenhäuser in neogotischen Formen auf einem unregelmäßig-achteckigen Grundriß mit an den Ecken vorgelagerten, durchbrochen gearbeiteten Nebentürmchen anzulegen, die einerseits die Kubatur der Turmstümpfe aufnehmen, andererseits in die achteckigen Turmhelme überleiten. Die starke Horizontale der Turmgalerie, die in ihrer Höhe durch den Bestand definiert war, wird durch Verdopplung aufgebrochen, indem Schneider zwischen den beiden Geschossen des Turmaufsatzes eine zweite, etwas zurückspringende Galerie vorsieht und auch die geschoßgliedernden Kaffgesimse der Turmstümpfe am Südturm beibehält und für den Nordturm übernimmt.
Besagte Gesimse gliedern die Turmstümpfe in vier Geschosse. Das Untergeschoß ist dabei niedriger als die Portalzone des Westportals, das Kaffgesims muß daher um das Portal herumgeführt, aber auch über einem Fenster in der Westwand des Nordturms angehoben werden, das wesentlich größer als sein Pendant in der Westwand des Südturms ausgefallen ist. Das Gesims, das das zweite Turmgeschoß nach oben abschließt, konnte hingegen trotz unterschiedlicher Fensterformate auf einer Höhe durchgezogen werden. Mit Kreuzblumen abgeschlossene Strebepfeiler sind den Ecken der beiden Untergeschosse vorgelegt.
Im dritten Turmgeschoß fand Schneider im Südturm bereits ein großes, nur in kleinen Teilen als Fenster ausgebildetes Blendmaßwerk vor, dessen Formen er für den Nordturm übernahm, dort aber zu einem Maßwerkfenster ausformulierte. Für das vierte Turmgeschoß lieferte ebenfalls der Baubestand des Südturms das Vorbild: geschlossene, durch Blendarkaden gegliederte Wandflächen, deren Lisenen Konsolsteine und Baldachine zur Aufnahme eines Figurenschmucks vorgesetzt sind. Schneider kopierte den Bestand für den Nordturm, und zwar hier noch einschließlich der Konsolen und Baldachine, die erst in späteren Entwürfen reduziert werden bzw. ganz entfallen (vgl. L GS 14657 u. L GS 14658).
Über einem reich profilierten Gesims kragt schließlich die untere Turmgalerie vor, auf deren Maßwerkbrüstung an den Ecken wappentragende Löwen aufsitzen. Die Galerien von Nord- und Südturm werden mit einer Brücke verbunden, eine wohl in Eisen zu denkende Bogenkonstruktion mit reichem, aus dem Blendbogenfries der angrenzenden Turmgeschosse entwickeltem Maßwerkschmuck und mit Maßwerkbrüstungen.
Der auf der Galerieplattform mit Rücksprung aufgerichtete Turmaufsatz weist in der Horizontalen ebenfalls eine Vierteilung auf. Drei Abschnitte entfallen auf das eigentliche Glockenhaus; es ist durch Gesimsbänder in drei etwa gleich hohe Bereiche geteilt, die aber durch kleine Strebepfeiler und durchgehende Maßwerkbahnen der Schallöffnungen miteinander verbunden werden. In der Vertikalen ist die Fassade dreigeteilt: ein breites Mittelfeld mit der genannten Schallöffnung wird von zwei jeweils halb so breiten, offenen Maßwerkfenstern über Durchgängen flankiert, die den Unterbau von Nebentürmchen bilden, die aber erst im Obergeschoß des Turmaufsatzes oberhalb einer zweiten Galerie voll ausgebildet werden. Zugleich wird ihre luftige Struktur nochmals dadurch unterstrichen, daß ihre Wandflächen weitgehend aufgelöst sind und sie als Durchgänge des oberen Galerieumgangs fungieren. Oberhalb der Schallöffnungen sind im Obergeschoß, etwas zurückspringend, Giebel angelegt, über denen sich die spitzen, achteckigen Turmhelme erheben.
Stand: September 2007 [LK]


Literatur:
Walter 1994, Abb. 187


Letzte Aktualisierung: 08.09.2017



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